: Eis gewordene Friedhofsgeschichten
■ Im Kreuzberger Restaurant Abendmahl werden zum Nachtisch „tödliche Eiscremes“ serviert. Der Koch Udo Einenkel lässt sich von Spaziergängen auf Friedhöfen zu Desserts inspirieren. Das Ergebnis: Delicious Hospital und Lonely Freezer
Angefangen hat alles mit den Blutorangen. „Diese saftigen Früchte mit dem tiefroten Fleisch erinnerten mich irgendwie an Krankenhaus, an Verletzungen, Verbände und Pflaster“, sagt Udo Einenkel. Damals, mehr als zwei Jahre ist das jetzt her, entstand die Idee zu „Delicious Hospital“, einem Ensemble aus Vanilleeis, Blutorangensorbet und Mandelkrokant.
Seitdem kredenzt Einenkel, Wirt und Koch des Kreuzberger Restaurants „Abendmahl“, seinen Gästen gespenstisch schöne Desserts: „Tödliche Eiscremes“ nennt er die kühlen Kreationen, zu denen er sich von den üppigen Grabsteinen und Mausoleen der Berliner Friedhöfe inspirieren lässt.
„Für mich sind die Gedanken an den Tod und die Vergänglichkeit des Lebens kein Gegensatz zu der Lust und Freude am Leben“, sagt Einenkel. Irgendwann habe er angefangen, mit seiner betagten Zwergpudeldame Lotte die Friedhöfe der Stadt zu durchstreifen. Anfänglich, so gibt er zu, habe er auch Beklemmungen bei der plötzlichen Konfrontation mit dem Tod gehabt.
Inzwischen jedoch empfindet er die Friedhöfe als ruhige Oasen der Erholung, in denen sich ein unerschöpfliches Reservoir an Geschichten verbirgt: „Man muss nur genau hinschauen, dann erkennt man, dass die Inschriften, die Grabsteine und die Mausoleen eine Menge zu erzählen haben.“ Und weil Einenkel den sinnlichen Genüssen des Lebens durchaus zugetan ist, begann er zu überlegen, wie er die morbide Ästhetik der Friedhöfe und die sinnenfrohe Lebenslust mit seiner Kochleidenschaft in Einklang bringen könnte.
Die Herausforderung bei seinem Erstlingswerk „Delicious Hospital“ lag im Detail, „im Pflaster“, erklärt er. Ursprünglich wollte er das Ensemble mit einem echten Stück Pflaster auf dem Teller garnieren. Doch da habe sein Kompagnon nicht mitgespielt. „So musste ich mir eine entsprechende Backform basteln und das Pflaster aus Mürbeteig backen.“ Inzwischen gibt es jeden Monat ein neues Dessert.
Derzeit serviert er seinen Gästen, die immer öfter nur wegen der phantasievoll-schaurigen Nachtische ins „Abendmahl“ kommen, das Dessert „Lonely Freezer“: Ein Mausoleum aus weißer Joghurteiscreme, einer grünen Kuppel aus Kiwisorbet und bräunlichen Treppen aus Sesamkrokantchips, garniert mit Schlagsahne und gekrönt von einem golden schimmernden Marzipankreuz. „Eis, Gebäck und alles, was ich sonst für die Herstellung einer solchen Eisgeschichte brauche, stelle ich selber her“, betont Einenkel.
Maximal fünf Minuten behält das Eis seine Form, dann beginnt es – sofern es noch nicht aufgegessen ist – zu zerfließen. Damit jedoch all die schönen Kreationen, der er bisher erfunden hat und noch erfinden wird, wenigstens bildlich erhalten bleiben, hat sich der Koch-Autodidakt auch noch das Fotografieren selber beigebracht: „Das erste Foto, das ich mit einer schlichten Kleinbildkamera gemacht habe, war eine einzige große Enttäuschung“, erzählt er. „Weder Farben noch Form waren richtig zu erkennen, überall waren Schatten, und der Hintergrund verschwamm im Nichts.“
Das ärgerte ihn, und er experimentierte mit Beleuchtungen und Dekorationen so lange herum, bis er in die Feinheiten der höheren Fotografie eingedrungen war. Nun plant der gelernte Bürokaufmann und ehemalige Schlagzeuger einer Band auch noch eine Fotoausstellung seiner Eiskreationen. Doch bisher hat er den geeigneten Raum dafür noch nicht gefunden. Und noch etwas sucht der vielseitige Einenkel: einen Verleger, der keine Angst hat, die Rezepte und Fotos der „Tödlichen Eiscremes“ zu veröffentlichen.
Barbara Maaßen/AP
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