: Trauer um die verlorene Autonomie
Der Pariser Soziologe Pierre Bourdieu sucht in seinem neuesten Buch nach den „Regeln der Kunst“. Er findet sie in den Romanen Flauberts und im Frankreich des 19. Jahrhunderts, als Kunst und Kommerz noch streng voneinander getrennt waren ■ Von Gustav Mechlenburg
Wenn Soziologen über Kunst schreiben, bleibt von ihr nicht viel übrig. Den Kunstliebhaber muss das nicht stören, Künstler schon gar nicht. Doch immer gibt es solche, seien es Kunsthistoriker oder Philosophen, für die eine derartige Einmischung einen Tabubruch bedeutet. Sie sehen durch die wissenschaftliche Analyse schöpferischer Werke die Einzigartigkeit des Individuellen bedroht. Das Aufzeigen der Grenzen von reduktionistischen Analysen ist daher von jeher gängige Strategie. Mit Gadamers Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem Erklären und hermeneutischem Verstehen wird der Kunst und damit der individuellen Wahrnehmung und Produktion ein Platz freigehalten.
Doch genau diese Unterscheidung zwischen „verstehender Einfühlungsseligkeit“ und „mechanistischem Sezieren“ will der Pariser Soziologe Pierre Bourdieu destruieren. Soziologie ist seiner Meinung nach wissenschaftliches Verstehen, Nachvollziehen von sozialen Notwendigkeiten. Er wehrt sich gegen jede essenzialistische Sichtweise, die eine Eigentlichkeit oder einen überzeitlichen Wahrheitskern in den Werken der Kunst vermutet.
Die Regeln, denen Bourdieu in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch „Die Regeln der Kunst“ nachgeht, sind denn auch keine ästhetischen, sondern gehorchen der Logik eines spezifischen sozialen Feldes, in diesem Fall dem der Kultur, dessen Autonomie Bourdieu anhand der französischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rekonstruiert.
Es ist die Zeit der Salons, der Zeitungen und die Geburtsstunde des Intellektuellen. Zu dieser Zeit emanzipiert sich der Kunstgeschmack von den herrschaftlichen Institutionen, insbesondere den Akademien. Fragen danach, was Kunst sei und was ihre jeweils adäquate Form darstelle, werden in einer komplexen Struktur von Positionen innerhalb des Feldes ausgehandelt. Beteiligt daran sind einerseits Künstler verschiedener Bereiche (Theater, Literatur, bildende Kunst), andererseits Journalisten, Verleger und Galeristen. Bourdieus These ist, dass sich die jeweilige Kunstform bzw. -gattung aus den Strategien der Produzenten ergibt, die bestimmte Positionen zwischen der Anerkennung aus den eigenen Reihen und dem ökonomischen Erfolg einnehmen. Durch ständige Abgrenzung und feine Unterscheidungen erlangen sie Bedeutung und erzeugen somit zugleich einen nie endenden Wandel der Kunstformen.
In der Untersuchung von Flauberts Roman „Erziehung des Herzens“, die den Hauptteil des Buches ausmacht, zeigt Bourdieu, dass sich Flaubert seiner eigenen Position innerhalb der Welt der Kunstschaffenden bewusst gewesen sein muss. Der Aufbau seines Romans gleicht einem soziologischen Experiment, in dem die Pole Kunst und Geld das Hauptraster bilden. In der beschriebenen Gesellschaft sind die Trümpfe, welche die verschiedenen Kapitalformen – kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital – darstellen, anders verteilt als in der äußeren sozialen Welt. Die Autonomie des literarischen Feldes drückt sich in der Verkehrung der Werte aus. Wie in der Wissenschaft bewirkt die Leugnung des Interesses, vor allem an Profit, ein gesteigertes Prestige. Kommerzieller Erfolg gilt als suspekt. Der Künstler tritt als Gönner auf, für dessen Gabe es keine Gegenleistung geben kann. Ein möglicher späterer Profit wird durch das eingeschobene Zeitintervall verschleiert.
Wie auch in anderen Studien zeigt Bourdieu in diesem Buch, wie die Stellung im Machtsystem durch Konvertierung bestimmter Kapitalarten gehalten oder gesteigert werden kann. Es zeigt sich, dass sich selbst in den intimsten Gefühlen der Protagonisten, die Flaubert beschreibt, diese Struktur des übergeordneten Machtfeldes widerspiegelt. Und genau darin besteht nach Bourdieu der Vorteil, den die Literatur gegenüber der Soziologie hat, in dem „Vermögen, die gesamte Komplexität einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten muss, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfassbaren Gestalt zu verdichten“.
Es scheint fast so, als sei, was für den humanistischen Hermeneutiker das Goldene Zeitalter Griechenlands darstellt, für Bourdieu das Frankreich des letzten Jahrhunderts. Er trauert einer Zeit nach, in der seiner Meinung nach die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz noch gewahrt waren. Die Autonomie des literarisch-künstlerischen Feldes ist Bourdieu zufolge die Voraussetzung für die Wirksamkeit politischen Handelns. Denn der Intellektuelle versucht genau die Werte der Unabhängigkeit, die sich im literarischen Feld behaupteten, in der Politik wirksam werden zu lassen. An dieser Stelle knüpfen auch die neueren Beiträge Bourdieus an, ob sie sich mit Europa oder den Medien beschäftigen. Es geht ihm um die Autonomie der kritischen Intelligenz. Allerdings erkauft er sie in diesem Buch mit dem Rekurs auf eine Zeit, die er selbst als überholt betrachtet. Pierre Bourdieu: „Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes“. Suhrkamp 1999, 551 Seiten, 98 DM
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