■ Kommentar: Verhandeln als Ritual Israelis und Palästinenser sind sich einig
Menschenschacher ist wohl die zutreffendste Bezeichnung für das, was Palästinenser und Israelis in den zurückliegenden Wochen veranstaltet haben: Wie viele Gefangene kommen frei? 400 oder 350 oder 370 oder 357...? Offiziell ging es den Israelis darum, dass unter den freizulassenden Palästinensern keine sind, an deren Händen israelisches Blut klebt. Offiziell ging es den Palästinensern darum, verdiente Kader und Kämpfer freizubekommen statt simple Kriminelle.
Doch eigentlich wollten beide Seiten etwas anderes: Der eigenen Klientel gegenüber Härte demonstrieren. Nur so ist der erzielte Kompromiss daheim zu verkaufen. Da macht es nichts, dass rote Teppiche aus- und wieder eingerollt werden und eine US-Außenministerin hastig ihre Reisepläne ändert, um dann festzustellen, dass sie plötzlich Zeit für einen ganztägigen Strandspaziergang hätte.
Das alles gehört zum Ritual. Schließlich wussten beide Seiten von Anbeginn, dass sie zu einer Einigung kommen müssen. Doch beiden sitzt die Opposition im Nacken. Auf palästinensischer Seite haben Islamisten und Linke die Formel, der „Ausverkauf nationaler Interessen“ habe bereits mit Arafats Unterschrift unter das erste Oslo-Abkommen vor sechs Jahren begonnen, im Stehsatz. Und der Likud wartet nur darauf, die Parole herauszupusten, mit Netanjahu und Scharon als Verhandlungsführern wäre mehr für Israel herauszuschinden gewesen.
Dagegen hilft nur die Würdigung der eigenen Verhandlungsführung durch die Bevölkerung. Deshalb krallen sich beide Seiten bis zuletzt an Details fest, die eigentlich nicht entscheidend sein sollten. Die Gefangenenfrage relativiert sich bei einem Blick auf die Gesamtzahl der in israelischen Gefängnissen sitzenden Palästinenser: zwischen 3.000 und 3.500!
Blenden gehört zum Handwerk jedes Diplomaten. Und so wird an einem Tag behauptet, man sei sich in allen Punkten einig, außer in der Gefangenenfrage. Am nächsten Tag heißt es dann, die Gefangenenfrage sei gelöst, aber es gebe noch andere Streitigkeiten. Vielleicht wird sogar die für heute Abend angekündigte Unterzeichnungszeremonie noch einmal verschoben. Egal, stattfinden wird sie auf jeden Fall. Irgendwann wird dann vielleicht einer der Beteiligten in seinen Memoiren zugeben, dass man schon viel früher so weit war. Thomas Dreger
Bericht Seite 6
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