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Kernschmelze im AKW Krümmel: Bei einer Katastrophenschutzübung im November sollen Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung erprobt werden. Das Ergebnis steht bereits fest: Es gibt keine Von Marco Carini

6. November 1999: Im Siedewasserreaktor Krümmel kommt es zu einem schweren Atom-Störfall. Die Katastrophenschutzstäbe der Innenministerien von Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern versuchen in Zusammenarbeit mit der Einsatzstelle des Kreises Lauenburg und der Kraftwerksleitung, die Folgen der sich anbahnenden Katastrophe so gering wie möglich zu halten und den Schutz der Bevölkerung durch reibungslose Umsetzung der vorbereiteten Notfallpläne zu gewährleisten. Dieses Horrorszenario wird im kommenden Monat tatsächlich stattfinden, wenn auch nur als Katastrophenschutzübung der vier beteiligten Länder.

In der Stabsrahmenübung „Krümmel 99“ soll die Zusammenarbeit aller für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden geübt werden. Die AnwohnerInnen des 1983 erbauten Atommeilers werden davon allerdings nichts merken. Die Notfallprobe findet nur am grünen Tisch per Telefon und Computer statt. Eine Übung mit zweifelhaftem Nutzen. „Niemand weiß, was solche Planspiele wirklich wert sind, wenn es zu einem realen Störfall kommt“, räumt etwa Johannes Altmeppen, Sprecher der Krümmel-Mitbetreiberin Hamburgische Electricitäts-Werke (HEW) freimütig ein. Was im Fall des Falles zu tun ist, legen detaillierte Katastrophenschutzpläne fest – was wirklich passieren wird, weiß niemand.

Wenn in der Tag und Nacht besetzten Ratzeburger Leitstelle der Kreisverwaltung des Herzog-tums Lauenburg über eine extra freigeschaltete Faxleitung die Störfall-Nachricht aus dem Atomkraftwerk Krümmel eintrifft, geht alles blitzschnell. Innerhalb von Minuten informiert der diensthabende Mitarbeiter Landrat Günther Kröpelin, den für den Katastrophenschutz des Kreises zuständigen Amtsleiter Jann Uwe Petersen und weitere Beamte des Kreises. Fast zur selben Zeit erhalten auch das Lagezentrum des schleswig-holsteinischen Innenministeriums und das Kieler Energieministerium sowie Polizei und Feuerwehr die Nachricht, dass es im Atomkraftwerk bei Geesthacht einen kerntechnischen Störfall gegeben hat. Die Kühlung der Brennelemente ist weitgehend ausgefallen. Das Schmelzen des Reaktorkerns, verbunden mit einer massiven Freisetzung radioaktiver Stoffe, ist nicht auszuschließen.

Keine halbe Stunde später füllt sich der große Sitzungsaal des Ratzeburger Verwaltungsgebäudes in der Barlachstraße 2. Unter Leitung von Katastrophenabwehrleiter Kröpelin bemühen sich die Versammelten, sich ein Bild von der Lage zu machen. Der „Verbindungsmann“ des außer Kontrolle geratenen Atommeilers versucht eine Prognose über den weiteren Störfallverlauf. Ein herbeigerufener Meterologe schätzt ab, über welche Teile des Landkreises eine strahlende Wolke aus dem Kraftwerk hinwegziehen würde und ob radioaktiver Regen droht. Nach hektischen Telefonaten mit den für Katastrophenschutz zuständigen Beamten der Landesregierung löst Kröpelin schließlich Katastrophenalarm aus. Minuten später heulen 190 Sirenen im Landkreis. Radiostationen und Fernsehsender unterbrechen ihr Programm für eine vorbereitete „amtliche Gefahrendurchsage“. Lautsprecherwagen der Polizei und der Feuerwehr setzen sich in Bewegung, um die Bevölkerung zusätzlich zu warnen.

Bleibt genügend Zeit bis zur befürchteten Freisetzung der todbringenden Strahlung, wird die Bevölkerung aufgefordert, sich an vorbereiteten Depots mit Jodtabletten einzudecken und anschließend das Gebiet über bestimmte Straßen zu verlassen. Wer über kein eigenes Auto verfügt, soll zu einem Sammelpunkt kommen, von dem aus eine Evakuierung mit Bussen geplant ist. Personen, die weder über ein eigenes Fahrzeug verfügen noch in der Lage sind, eine der Sammelstellen zu erreichen, sollen nach einer Empfehlung der Kraftwerksbetreiber weiße Bettlaken in ihre Fenster hängen – und darauf hoffen, daß sie von Helfern des Katastrophenschutzes entdeckt und abgeholt werden.

Was nun passieren wird, wurde so niemals geübt. Niemand kann sicher vorhersagen, wie die Bevölkerung sich bei einer atomaren Katastrophe verhalten werden. „So ein Ernstfall lässt sich nicht proben, dann sind wir auf Improvisation angewiesen“, räumt Katastrophenschützer Petersen ein. Dabei geht der Abteilungsleiter davon aus, dass „wir ein Verkehrschaos im Zweifel nicht verhindern können“. Die Straßen des Landkreises werden den Blechlawinen kaum gewachsen sein, wenn – wie in den Katastrophenplänen prognostiziert – 80 Prozent der gefährdeten Bevölkerung auf eigene Faust im Auto panikartig die Flucht ergreift. Schon nach wenigen Minuten dürften die Kreuzungen der wichtigsten Ausfallstraßen durch ineinander verkeilte Wagen blo-ckiert sein. Gleichzeitig müssen die Evakuierungs-Busse, aber auch viele angeforderte Helfer erst einmal auf den verstopften Straßen in das gefährdete Gebiet hineinkommen. „Außerdem ist damit zu rechnen, dass Personen, die sich außerhalb des Landkreises aufhalten, versuchen werden, zu ihren Familien zu kommen“, gibt der Katastrophenschutzexperte des Öko-Instituts Darmstadt, Christian Küpers, zu bedenken. Sperrgitter und schwerbewaffnete Ordnungskräfte sollen das im Ernstfall verhindern.

Ob diese Ordnungskräfte, aber auch die dringend benötigten Ärzte im Ernstfall überhaupt in ausreichender Zahl zur Verfügung ständen, steht ebenfalls in den Sternen. So weiß der Marburger Nuklearmediziner Professor Horst Kuni von Kollegen zu berichten, „die im Katastrophenstab eines Atommeilers nur mitarbeiten würden, um so früh von einem drohenden Unfall zu erfahren, dass sie sich rechtzeitig mit ihren Familien absetzen könnten statt Hilfe zu leisten“. Auch Petersen räumt ein, nicht zu wissen, „wie hoch die Ausfallquote unter den Ärzten und Hilfskräften sein wird, wenn es hart auf hart kommt“.

Bei einer radioaktiven Verseuchung des Landkreises müßten die betroffenen Bewohner ohnehin ohne Hilfe von außen auskommen. Klar definierte Strahlenschutzwerte verbieten dann jedes Eintreten in die Gefahrenzone. „Da gibt es Grenzen der Hilfsmöglichkeiten“, betont Petersen. Solche Grenzen gibt es auch bei der der medizinischen Erstversorgung, die nach einer erfolgreichen Evakuierung in einer flugs eingerichteten „Notfallstationen außerhalb der Gefahrenzone durchgeführt werden soll. „Wir Strahlenmediziner werden überhaupt nicht auf einen solchen Einsatz vorbereitet“, klagt Horst Kuni.

Auch in Lauenburg hat es bislang keinerlei Notfallübungen mit den sechs dort lebenden Nuklearmedizinern gegeben. „Der medizinische Bereich ist ein Schwachpunkt der Notfallplanungen“, räumt Petersen freimütig ein, gibt die Schuld dafür aber den Ärzten: Die seien „nicht verpflichtet, sich auf einen Strahlenunfall vorzubereiten, und nehmen Fortbildungsangebote in diesem Bereich so gut wie gar nicht an“. Im Ernstfall würde sich die medizinische Erstversorgung auch deshalb auf das Sortieren leichter und schwerer Strahlen-Fälle und die sogenannte Dekontamination beschränken. Im Klartext heißt das: duschen und umziehen.

Die meiste Strahlung werden die Unfall-Opfer durch das Einatmen der radioaktiver Partikel aufnehmen. Luft aber lässt sich nicht abspülen. An die medizinisch notwendigen Blutuntersuchungen, auf deren Grundlage der Grad der Verstrahlung festgestellt und die notwendigen Behandlungsschritte festgelegt werden könnten, ist gar nicht zu denken. Strahlenmediziner Kuni geht auch deshalb davon aus, „dass ganz leichte und ganz schwere Fälle im Ernstfall nicht mehr behandelt werden“. Doch damit nicht genug: Die für einen Atomunfall in Krümmel ausgearbeiteten Katastrophenschutzpläne weisen eine Menge Ungereimtheiten und handwerkliche Fehler auf. So gilt grundsätzlich: Um radioaktiven Niederschlägen zu entkommen, darf niemals in Windrichtung evakuiert werden. Doch die Schwarzenbeker BürgerInnen, denen ein radioaktives Fall-Out nur dann droht, wenn der Wind gen Nordost weht, sollen ausgerechnet in das nordöstlich von Schwarzenbek und Krümmel gelegene Groß-Grönau evakuiert werden.

Eine andere Pannen-Planung: Obwohl laut amtlicher Gefahrendurchsage nur „Keller und innenliegende Räume“ Schutz vor den strahlenden Partikeln bieten, sind Schulen als anzulaufende „Notfallstationen“ vorgesehenen, die weder über das eine noch das andere verfügen. „Wo es weder Keller noch Innenräume gibt, bieten auch außenliegende Räume einen gewissen Schutz“, verteidigt Katastrophenschützer Petersen wenig überzeugend die Konzepte seiner Behörde.

Doch die Evakuierungspläne weisen nicht nur Schwächen auf, sie fußen nach Erkenntnissen des Darmstädter Öko-Instituts auch auf „fragwürdigen Voraussetzungen“. Instituts-Mitarbeiter Christian Küppers weiß: „Alle Pläne gehen davon aus, dass man vom Störfallbeginn bis zum Eintreten einer Kernschmelze mehrere Tage Zeit hat, Maßnahmen zu ergreifen. Doch nach dem heutigen Stand der Wissenschaft, bleiben in der Mehrzahl der denkbaren Schadens-Fälle nur zwei bis vier Stunden, bis die Kernschmelze in vollem Gange ist“. Küppers Schlussfolgerung: „Wenn das passiert, kann man jeden Katastrophenplan in die Tonne treten.“

Am Montag Teil 2: Die Evakuierung Hamburgs nach der Kernschmelze

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