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Parlamentsüberfall im „Namen des Volkes“

Die nationalistischen Attentäter und Geiselnehmer, die in Armenien acht Politiker erschossen hatten, geben auf, nachdem ihnen ein „fairer Prozess“ zugesagt wurde. Offiziell wird in Eriwan das Massaker als Tat verwirrter Einzeltäter dargestellt    ■ Von Klaus-Helge Donath

Moskau (taz) – Die automatischen Schnellfeuerwaffen der Marke Kalaschnikow und die Pistolen hatten die Terroristen unter wallenden Trenchcoats verborgen. Gegen 17.15 Uhr Ortszeit stürmten sie am Mittwochnachmittag das Parlamentsgeäbäude in der armenischen Hauptstadt Eriwan und eröffneten das Feuer auf Abgeordnete und Mitglieder der Regierung, die dem Parlament jeweils mittwochs Rede und Antwort stehen.

Ein grobkörniger Schwarzweiß-Mitschnitt, der offensichtlich mit der Kamera der Attentäter aufgenommen wurde, zeigt zwei der Amokschützen. Einer stürmt auf die Bühne, wo Ministerpräsident Wasgen Sarkisjan und weitere sechs Kabinettsmitglieder sitzen. Sein Komplize schießt unterdessen wahllos in die erste Reihe der Parlamentarier, während die Abgeordneten dahinter unter den Bänken Schutz suchen. Inzwischen bestätigte das Präsidialamt in Eriwan, dass Premierminister Wasgen Sarkisian, Parlamentsvorsitzender Karen Demirtschian und sechs weitere Personen dem Anschlag zum Opfer gefallen sind.

Einer der Terroristen, die sich zum Parlamentsgebäude mit Presseausweisen Zugang verschafft haben sollen, wurde als Nairi Unanian identifiziert. Der ehemalige Journalist ist Mitglied der nationalistischen Partei Armenisch Revolutionäre Föderation, auch als Daschnak bekannt. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, den armenischen Staat in den Grenzen wieder zu errichten, die das armenische Einflussgebiet vor Jahrhunderten einmal umfasst hatten. Damals erstreckte es sich noch vom Mittelmeer bis zur Kaspisee.

Unanian stürmte auf das Podium und schrie den Ministerpräsidenten an: „Hör auf, unser Blut zu saugen!“ Sarkisian soll ruhig geantwortet haben: „Es wird alles für euch und eure Kinder getan.“ Daraufhin schoss der Attentäter den Ministerpräsidenten nieder. Als der sich noch regte, drückte Unanian ein weiteres Mal ab. Insgesamt waren fünf Männer an dem Attentat beteiligt. Achtzehn Stunden hielten sie 60 Abgeordnete und Mitarbeiter des Parlaments in ihrer Gewalt. Zunächst forderten sie Zugang zum nationalen Fernsehen. Eine mobile Sendeanlage soll daraufhin auch herbeigeschafft worden sein. Präsident Robert Kotscharijan, der die Verhandlungen mit den Terroristen noch am Abend übernahm, gelang es unterdessen, sie zum Aufgeben zu bewegen. Statt eines Auftritts im Fernsehen sagte Kotscharjan zu, ihren Aufruf zu verlesen. Desgleichen versicherte er ihnen, sie würden in der Untersuchungshaft „keiner Gewalt ausgesetzt“, würden einen fairen Prozess bekommen, der auch öffentlich ausgestrahlt werde. Die Attentäter legten darauf großen Wert. Sie sind der festen Überzeugung, „im Namen des Volkes“ gehandelt zu haben. Gegenüber einem lokalen Sender meinte einer der Terroristen : „Dies ist eine patriotische Aktion, die nötig ist, um die Nation wieder zu sich kommen zu lassen.“ Das Land befände sich „in einer katastrophalen Lage, die Menschen sind hungrig, und die Regierung ist ratlos“.

Die Zusage hatte Erfolg. Am Morgen verließen die letzten Geiseln unverletzt das Parlament. Vertreter des Präsidenten und der Regierung waren indes auffallend darum bemüht, das Blutbad als eine Tat verwirrter Einzeltäter hinzustellen, die sich auf keine politische Kraft stützen können. Eriwans Verbündeter Moskau schickte noch am selben Abend die Gruppe Alpha, eine für Antiterrorbekämpfung zuständige Spezialeinheit des russischen Geheimdienstes. Offenkundig war man im Kreml höchst alarmiert, da Armenien Russlands einziger verlässlicher Partner im volatilen Transkaukasus ist. Die Attentäter bestritten indes, Anschlag und Wahl des Zeitpunktes stünden im Zusammenhang mit den Verhandlungen um die armenische Enklave Nagorny Karabach.

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