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Im Zweifel für die Anklage

Sie kämpften gegen den Vietnamkrieg, für Bürgerrechte, gegen den Kolonialismus: Aktivisten der Black Panther, der Weatherman, des American Indian Movement oder radikale Puertoricaner. Häufig war ihnen Gewalt als Mittel recht; sie wurden gnadenlos verfolgt. Obwohl in vielen Fällen US-Polizei und Justiz zweifelhafte Methoden nachgewiesen wurden, Berufungen und Proteste Erfolg zeitigten, sitzen einige der ehemals Militanten noch heute im Knast, einer sogar im Todestrakt Von Stefan Schaaf

Edwin Cortés, Luis Rosa und Carmen Valentin hatten Glück. Ihre Begnadigung durch US-Präsident Bill Clinton bedeutete, dass sie und neun weitere puertoricanische Häftlinge aus dem Gefängnis in Chicago entlassen wurden – nach neunzehn Jahren hinter Gittern! Begeistert wurden sie Anfang September in San Juan, der Hauptstadt Puerto Ricos, empfangen.

Sie waren 1980 wegen ihrer Beteiligung an bewaffneten Raubüberfällen im Namen der FALN, der „Bewaffneten Streitkräfte der Nationalen Befreiung“, zu Haftstrafen zwischen 35 und 90 Jahren verurteilt worden. Die FALN verübte zwischen 1974 und 1983 130 Bombenanschläge, um gegen den „Kolonialismus der USA“ zu protestieren und die Unabhängigkeit Puerto Ricos zu erstreiten. Sechs Menschen kamen dabei ums Leben.

Prominente wie der frühere US-Präsident Jimmy Carter, Menschenrechtsaktivisten und eine Kampagne, bei der 75.000 Unterschriften gesammelt wurden, setzten sich für die Freilassung der FALN-Gefangenen ein, weil sie deren Strafen als zu hart empfanden. Clinton hatte ein Einsehen, machte aber zur Voraussetzung einer Amnestie, dass die Häftlinge der Gewalt abschwören und jeglichen Kontakt zu anderen FALN-Aktivisten meiden.

Doch nicht die lange Haft der zwölf Puertoricaner erregte jetzt bei deren Freilassung die Gemüter, sondern der öffentliche Widerspruch Hillary Clintons gegen den Gnadenerlass ihres Ehemanns. Die First Lady möchte den Bundesstaat New York nach den Wahlen in einem Jahr im Senat vertreten, und einen Vorwurf möchte sie dabei nicht hören: mit Gewalttätern zu zart umzugehen.

Wenig Sympathien erntete sie mit ihrem Widerspruch bei den Puertoricanern in New York City und auf der seit 1898 von den USA kontrollierten Karibikinsel. Dort sind die FALN und ihre Aktivisten bis heute populär, auch wenn bei einem Referendum 1998 nur drei Prozent für die Unabhängigkeit der Insel votierten, 51 Prozent hingegen für den Status quo. 46 Prozent wollten, dass Puerto Rico der 51. US-Bundesstaat wird.

Glück hatte – im Vergleich zu anderen politisch motivierten Häftlingen in US-Gefängnissen – auch Katherine Ann Power. Die heute 50-jährige ehemalige Vietnamkriegsgegnerin wurde Anfang Oktober aus dem Gefängnis von Massachusetts entlassen – nach knapp sechs Jahren Haft. Sie war 1970 an einem Bankraub beteiligt, der 26.000 Dollar für die Antikriegsbewegung erbrachte, und hatte anschließend lange Zeit im Untergrund gelebt. 1993 stellte sie sich den Behörden. Ein Gericht verurteilte sie zu acht bis zwölf Jahren Haft, wegen guter Führung wurde sie vorzeitig freigelassen.

Wie Powers lebten zahlreiche weiße Kriegsgegner, die wegen bewaffneter Aktionen gesucht wurden, viele Jahre im Untergrund und stellten sich erst in den letzten Jahren – so beispielsweise Jeff Powell von Weatherman, einer 1969 gegründeten radikalen Abspaltung des SDS, der „Students for a Democratic Society“. Weatherman verübte zwischen 1970 und 1977 zahlreiche Überfälle und Bombenanschläge auf Rekrutierungsbüros der US Army, das Hauptquartier der Nationalgarde, auf Gerichtsgebäude, Gefängnisverwaltungen und Regierungseinrichtungen. Im März 1970 starben drei Weatherman-Mitglieder, als in einer New Yorker Wohnung eine selbst gebastelte Bombe vorzeitig explodierte. Eine Hand voll Weather-Aktivisten sitzt bis heute wegen der Bombenanschläge in Haft.

Andere gingen nach vielen Jahren doch noch der Polizei in die Falle, wie Kathleen Ann Soliah von der „Symbionistischen Befreiungsarmee“, die durch die Entführung von Patty Hearst 1974 bekannt wurde. Das Kapitel dieser kalifornischen Desperadotruppe wird im Januar wieder aufgerollt werden, wenn der Prozess gegen Soliah beginnt. Dann soll auch Patty Hearst aussagen.

Auch Elmer Pratt, der heute Geronimo ji Jaga heißt, hatte Glück, wobei der Begriff in seinem Fall schon sehr strapaziert ist. 27 Jahre lang, bis 1997, saß der frühere Black-Panther-Führer im Gefängnis. Die Anklage warf ihm vor, 1968 eine Lehrerin in Santa Monica ermordet zu haben, während Pratt darauf bestand, er sei zur Tatzeit hunderte Kilometer entfernt in Oakland gewesen. Der Hauptbelastungszeuge, so erwies sich später, stand im Sold des FBI. Doch es dauerte ein Vierteljahrhundert und bedurfte etlicher Proteste und Eingaben, bis ein Richter die Konsequenz zog, das Urteil endlich aufzuheben und ihn auf freien Fuß zu setzen.

Pratt war eine der führenden Figuren der Black Panther Party (BPP) in Los Angeles, jener von Huey P. Newton und Bobby Seale im Oktober 1966 im kalifornischen Oakland gegründeten militanten Schwarzenorganisation, die in ihren besten Zeiten gerade fünftausend Mitglieder hatte. Die Black Panther predigten die soziale Revolution und die Abkehr von der weißen Gesellschaft, sie riefen Afroamerikaner in den Gettos der US-Großstädte auf, sich zur Selbstverteidigung zu bewaffnen. Ansonsten fielen sie vor allem durch Aktionen wie Frühstücksprogramme für Gettokids, Gesundheitsdienste und Mieterberatung auf.

Für das FBI aber waren sie die größte Gefahr, die dem Lande drohte, das Bureau infiltrierte die BPP mit Spitzeln und säte mit fingierten Flugblättern und Aufrufen erfolgreich Zwietracht in den Reihen der Organisation – das berüchtigte Counter Intelligence Program, kurz Cointelpro.

Glück hatten die hier genannten Oppositionellen, weil sie die Gefängnisse, wenn auch nach vielen Jahren, lebend verlassen konnten – obwohl eine Mehrheit der US-Bevölkerung wohl jedem von ihnen lebenslänglich Kerker wünschen würde. Viele haben den Protest gegen den Vietnamkrieg und die sozialen Auseinandersetzungen der Sechzigerjahre in den Vereinigten Staaten nicht überlebt. Allein in den drei Wochen, nachdem Präsident Nixon am 30. April 1970 die US-Invasion in Kambodscha bekannt gegeben hatte, starben zwölf Demonstranten durch Schüsse der Polizei oder der Nationalgarde: vier Studenten der Kent State University, sechs schwarze Bürgerrechtsdemonstranten in Augusta, Georgia und zwei Schwarze bei Protesten am Jackson State College in Mississippi. Auch die Black Panther wurden regelrecht gejagt. 29 seiner Gesinnungsgenossen seien bei Auseinandersetzungen mit der Polizei erschossen worden, erinnert sich Bobby Seale.

Als der Krieg 1975 zu Ende war und die politisch Verantwortlichen ihre Ämter verloren hatten, zerfielen die militanten Bewegungen. Weatherman löste sich in den späten Siebzigerjahren auf. Die BPP wurde ein Opfer von Cointelpro, Anfang der Achtzigerjahre „starb sie eines scheinbar natürlichen Todes“, wie es Sundiata Acoli, ein bis heute inhaftierter BPP-Veteran, formulierte. Genauso vom FBI zermürbt wurde das „American Indian Movement“, dessen Anführer Leonard Peltier seit 1977 inhaftiert ist – zu Unrecht, sagen seine Anwälte, sagt amnesty international und eine weltweite Solidaritätsbewegung. Historiker an Universitäten und Anwälte früherer Aktivisten haben viele Details über die illegalen Methoden des FBI gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung, die Panther und die Gegner des Vietnamkriegs an die Öffentlichkeit gezerrt. Manchmal konnte dies einem Verurteilten helfen, andere, wie Peltier, müssen sich trotz aller Beweise ihrer Unschuld darauf beschränken, auf eine Begnadigung durch Präsident Clinton zu hoffen.

Spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges war die politische Linke am Ende. Führende Vertreter machten plötzlich als Mainstream-Demokraten Karriere, wie der ehemalige SDS-Führer Tom Hayden, heute demokratischer Senator in Kalifornien. Oder sie präsentierten sich als neokonservative Publizisten, wie David Horowitz, früher prominenter Vietnamkriegsgegner, heute Apologet des Pinochet-Putsches in Chile. Andere erschöpften sich in Nabelschau und New-Age-Träumereien.

Neue Bewegungen betraten die Bühne: militante Umweltschützer von „Earth First!“, die sich Edward Abbeys Kultbuch „The Monkey Wrench Gang“ zu Herzen nahmen und Sabotageakte gegen die Abholzung der letzten kalifornischen Urwälder verübten, Atomkriegsgegner wie die „Ploughshares Eight“ um Daniel Berrigan, die Blut über Raketen gossen oder das Atomtestgelände in Nevada besetzten, oder Leute aus der Solidaritätsbewegung mit Zentralamerika, die ihr Leben riskierten, um Munitionszüge zu blockieren.

Heute kommt die Gewalt von rechts: Vor allem Endzeitsekten, Rechtsradikale wie Timothy McVeigh, militante Steuerverweigerer oder religiöse Wirrköpfe rufen dazu auf, sich mit Maschinenpistolen und Bomben gegen den Staat zu wehren. Christliche Fundamentalisten verüben Attentate auf Ärzte, die Abtreibungen vornehmen.

Die Kriminalität sinkt, aber die Gesellschaft der USA sieht sich heute mehr als je zuvor bedroht. Immer neue Gefängnisse werden gebaut und mit Insassen gefüllt. 1,7 Millionen Menschen sitzen in den USA hinter Gittern, etwa doppelt so viele wie ein Jahrzehnt zuvor. 3.800 Häftlinge bevölkern die Todestrakte, auch das ein Rekord in der Geschichte der Vereinigten Staaten. (Als die Richter des Supreme Court vor 27 Jahren die Vollstreckung der Todesstrafe aussetzten, war es auch die damals erschreckende Zahl von siebenhundert Todeskandidaten, die ihrem Gewissen keine Wahl zu lassen schien.) Viele wurden zu Unrecht verurteilt. Wie viele? Dank der akribischen Arbeit des Chicagoer Professors David Protess und seiner StudentInnen ist die Unschuld von mehr als siebzig Death-Row-Insassen nachgewiesen worden.

Andere hatten bislang weniger Glück. Terry Washington etwa, der den Verstand eines Siebenjährigen hatte, als George W. Bush, Gouverneur von Texas und aussichtsreichster Präsidentschaftsbewerber der Republikanischen Partei bei den kommenden Präsidentschaftswahlen, 1997 seine Hinrichtung anordnete. Oder Irineo Tristán Montoya, der Englisch weder sprechen noch lesen noch verstehen kann, aber ein vierseitiges Geständnis in dieser Sprache unterschrieb, deshalb zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.

Auch Mumia Abu-Jamal, derzeit prominentester Insasse der amerikanischen Todestrakte, könnte vor allem Glück bei seinen jetzt anstehenden Einsprüchen gegen sein Todesurteil gebrauchen. Man wirft dem ehemaligen Black Panther vor, 1981 einen Polizisten erschossen zu haben, obwohl die gegen ihn im Prozess vorgelegten Beweise höchst zweifelhaft sind. Ihm war verweigert worden, sich vor Gericht selbst zu vertreten. Ein Bundesrichter muss gegenwärtig entscheiden, ob die Anwälte bei einer gerichtlichen Anhörung ihre zahlreichen neuen Beweise dafür vorlegen dürfen, dass Abu-Jamals Todesurteil mit unfairen Methoden zu Stande kam, oder ob ihm die Aktenlage des Prozesses von 1982 ausreicht. Eine solche Anhörung wäre die letzte Chance des 45-jährigen ehemaligen Black Panther, selbst vor Gericht auszusagen, und die letzte Möglichkeit für seine Verteidiger, die neuen Beweise in das Verfahren einzubringen.

Mitte Oktober haben seine Anwälte schon zum zweiten Mal in vier Jahren einen Hinrichtungstermin annullieren können. Zuvor war Abu-Jamal erneut der so genannten „death watch“, einem besonderen Haftregime, unterworfen worden: „Du wirst an Händen und Füßen gefesselt. Es ist so still, dass du dein Herz schlagen hörst“, sagte sein Mitgefangener Scott Blystone zum Präsidenten von amnesty international, Pierre Sané, der die beiden Gefangenen vor zwei Jahren besuchte. „Die Zelle besteht auf drei Seiten aus schalldichten Plexiglaswänden. Von vorne wirst du 24 Stunden am Tag durch eine Kamera überwacht. Du lebst noch, aber sie fragen dich schon, wo sie deine Leiche hinschicken sollen. Es tötet einen Teil von dir.“

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