■ Die virtuelle Ansprache eines DDR-Oppositionellen zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls 1989 im Berliner Bundestag: Eine ungehaltene Rede
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, meine Damen und Herren, offensichtlich hat die künstlerisch-weltfremde Lebensart unseres hochverehrten Kollegen und Bundestagspräsidenten, Wolfgang Thierse, ihm und uns einen üblen Streich gespielt. Erinnern Sie sich! Die Mauer ging vor zehn Jahren auf. Die Ostdeutschen liefen durch die Straßen in jenen Herbsttagen 1989. Sie riefen: „Wir sind das Volk!“ Sie wollten Land und Sozialismus reformieren. Da zogen die SED-Oberen ihre letzte Karte. Sie machten einfach die Grenze auf. Schabowski, der Kartenzieher, schaute bieder in die Runde der Journalisten. Er erklärte, die Grenze sei offen ohne Wenn und Aber. Die Genossen warfen die DDR einfach den Kapitalisten zum Fraß vor. Wenn sie schon nicht mehr die Vorhut sein konnten, dann sollte das Volk auch keine Chance mehr erhalten, den Sozialismus zu reformieren.
Die Ostdeutschen hatten ein geschichtliches Wunder vollbracht. Ein autoritäres System gab sich über Nacht selbst auf. Ein kleiner schäbiger Zettel in der Hand eines Politbürofunktionärs war in jener legendären Pressekonferenz die Urkunde der Kapitulation vor dem eigenen Volk.
Wenn wir heute des zehnten Jahrestages des Mauerfalls gedenken, dann ist das auf jeden Fall die Stunde der Ostdeutschen. Die Westdeutschen sollten an diesem Tag einmal schweigen. Sie sollten sich damit begnügen, dass sie an den übrigen 364 Tagen im Jahr das Sagen haben. Meine Damen und Herren, aber offensichtlich waren die ursprünglichen Entscheidungen für die Feierstunde in diesem hohen Hause völlig anders gefallen. Irgendjemand muss den 9. November 1989 mit dem 3. Oktober 1990 verwechselt haben. Ich habe gehört, dass das parlamentarische Gremium, das die Sitzungen des Bundestages vorbereitet, beschlossen habe, Michail Gorbatschow, George Bush und Helmut Kohl heute reden zu lassen – und als Verbeugung vor Geschichte und Protokoll haben sie fünf Minuten für den Quoten-Ossi Wolfgang Thierse und die doppelte Zeit für Bundeskanzler Gerhard Schröder draufgelegt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren vom Präsidium, als Sie die Brisanz der Situation erkannten, aber Sie nicht wagten, noch irgendjemand auszuladen, luden Sie noch einen dazu, einen aus der Bürgerbewegung, dessen Name zum Tätigkeitswort mutiert ist. Bei Joachim Gauck wird man nämlich gegauckt. Aber wie eine Lerche noch keinen Sommer macht, so bringt ein Gauck noch nicht die ganze Bürgerbewegung in dieses Parlament. Aber ihn als Notnagel einzuladen, damit er die Fehlentscheidungen der Politiker kaschiere, dafür ist er eigentlich zu schade. Aber vielleicht hat jener erlauchte Kreis das alles für diese Veranstaltung gar nicht festgelegt. Schließlich blieben auch im Gesetz zur Gesundheitsreform Teile stehen, die gar nicht mehr vorgesehen waren. Es könnte ja sein, dass das Regierungschaos nun auch die Leitungsgremien des Bundestages erreicht hat, nach dem Motto: „Wo ist noch ein klarer Tatbestand, den wir bis zur Unkenntlichkeit verdrehen können?“
Meine Damen und Herren, es könnte aber auch sein, dass wir es nicht mit der Verwirrtheit der Akteure zu tun haben, sondern mit der Rache der Beamten. Schließlich mussten sie ihr geliebtes Bonn räumen, jene vertraute Idylle, jene gemütliche Übersichtlichkeit. Die Mehrheit der Abgeordneten hatte sie seinerzeit durch das Votum für Berlin verraten. Schon der von allen hochverehrte Bundeskanzler Konrad Adenauer war der Meinung, dass hinter der Elbe Sibirien begänne. Und nun ging es gar bis an die Spree in dieses lärmende und unübersichtliche Berlin.
Das alles hatten die armen Beamten diesen mickrigen 16 Millionen Ostdeutschen zu verdanken, die hinter ihren Mauern hervorkrochen und die Ruhe im Staat störten. Ich könnte mir vorstellen, dass daher die Beamten beschlossen, die vorgesehene Runde von Persönlichkeiten für den 3. Oktober 2000 bereits am 9. November 1999 auftreten zu lassen. Vielleicht wollten sie das renitente Tun der Ostdeutschen im Herbst 1989 einfach aus dem Gedächtnis der Nation und der Geschichte löschen. Es wäre ja möglich, dass sie der festen Zuversicht gewesen sind, dass ihre abgeordentlichen Dienstherren die Manipulation nicht bemerken würden.
Aber, meine verehrten Damen und Herren, bei näherer Betrachtung kann ich mir diese Intrige nicht vorstellen. Mit den Abgeordneten hätten die Beamten sich solch einen Streich erlauben können, aber die ursprüngliche Entscheidung musste ja zu internationalen Verwicklungen führen. Denn der 3. Oktober 1990 wurde nur möglich, weil es die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gab. Es muss also eine andere Kraft dieses Verwirrspiel angerichtet haben. Wenn Markus Meckel oder Lothar de Maizière in dem erlauchten Kreis vergessen worden wären, dann hätte das kaum jemanden gestört. Sie sind sowieso schon vergessen und den Staat, den sie vertraten, gibt es nicht mehr. Aber wenn man schon den 3. Oktober auf den 9. November verschiebt, dann kann man doch nicht das stolze Albion und die Grand Nation außen vor lassen. Margaret Thatcher lebt schließlich noch, und für François Mitterrand hätte sich sicher ein würdiger Vertreter gefunden. Aber jetzt sind nur die ehemaligen Großmächte eingeladen und dazu der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl. Ich frage mich, ist hier nicht nur das Datum okkupiert worden, sondern meldet hier Deutschland nicht Großmachtansprüche an?
Offenbar haben Sie sich, verehrter Herr Bundestagspräsident, darüber auch schon ihren haar- und bartumwehten Kopf zerbrochen. So kam es dann zu der überraschenden Wende. Heute Morgen gegen zwei Uhr haben Sie mich aus dem Bett klingeln lassen. Ich habe mir erzählen lassen, es sei noch einigen hunderten aus der DDR-Opposition so ergangen. Es komme gleich ein zehnseitiges Fax, ließen Sie mich wissen. Als ich es gelesen hatte, habe ich Sie und das gesamte Präsidium sehr bewundert. Sie haben die Mächtigen ausgeladen und auf den 3. Oktober vertröstet. Die westdeutschen Abgeordneten sollen mit uns tanzen. Sie haben schon einige Stuhlreihen abschrauben lassen, sie werden gleich zur Seite geräumt. Ich bin der Letzte in der Reihe der Redner. Die Gesichter von damals sind im Saal: Heiko Lietz, Vera Lengsfeld, Marianne Birthler, Edelbert Richter, Wolfgang Templin, Angelika Schön, Rainer Eppelmann, Markus Meckel, Wolfgang Ullmann, Erika Drees, Rolf Henrich und viele andere. Lasst uns noch einmal „Wahnsinn!“ rufen und ein Tänzchen in diesem Hause wagen, denn wir sind dem Knechthaus Ägypten entronnen. Aber der Weg ins Gelobte Land ist noch weit und viele Gefahren lauern. Aber darüber lasst uns ein anderes mal reden.
Hans-Jochen Tschiche
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