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Das ekstatisch nach innen gestülpte Auge

■ Berliner Surreale: Filme von Luis Buñuel bis Louis Malle, ab heute im Lichtblick-Kino

Man kommt nicht vorbei an der berühmten Stelle am Beginn von Luis Buñuels „Ein andalusischer Hund“: Eine junge Frau lässt sich mit einem Rasiermesser den Augapfel durchschneiden.

Es handelt sich hier im doppelten Sinne um eine Überschreitung. Vordergründig ist es ein Akt der Grausamkeit, der dem Publikum das Äußerste an Leid beibringt. Für den Surrealismus jedoch ist das Auge eben die Schnitt-Stelle inmitten von äußerem Blick und innerer Erfahrung, jenem Gegenteil von Denken, das sich nur geschlossenen, geschnittenen oder – wie bei George Bataille – ekstatisch nach innen gestülpten Auges erschließt. Den Eintritt in das Reich des Traums gewährt uns gewiss jede Nacht der Schlaf, der surrealistische Film aber will ihn herbeinötigen.

Kaum einer der anlässlich der Berliner Surreale im Lichtblick-Kino präsentierten Filme kommt daher ohne eine solche Einführung aus. In die Abgründe seiner Seele, ins Innere des äußeren Ichs gelangt der Poet in Jean Cocteaus „Das Blut eines Dichters“ durch den Spiegel – die entschärfte Version von Buñuels Geschnippel. In Wirklichkeit, wir schreiben 1931, fällt der Schauspieler in ein Wasserbecken. Nicht umsonst verdankt der Film die Geburt der Special Effects dem Surrealismus. Gemeinsam mit absurden Motivmontagen dienten sie nicht wie heute der Steigerung des real Möglichen, sondern der Erfahrbarkeit des Unmöglichen: aus der Hand kriechende Ameisen bei Buñuel, ein Ausflug in den Hades in Cocteaus „Orphée“.

Die psychologischen Kausalitäten der Traumdeutung sind aufgebrochen, es regiert, so symbolschwanger wie inhaltsleer, der Mythos. Wobei Buñuels traumatische Aufarbeitung seiner Jesuitenschulung – ein Priesterpaar windet sich am Glockenseil – durchaus ins Blaue trifft und dabei auch das eigene Treiben ironisiert.

Das Programm fällt sehr klassisch aus, denn die Lichtblick-Leute haben sich der reinen Lehre verschrieben: Dem „Das hat was Surreales“-Gequatsche der Filmkritik soll endlich der Garaus gemacht werden. Bei so viel Heißblut und angesichts eines schönen Beiprogramms mit Livebegleitungen macht es auch nichts, dass ein Film wie Louis Malles unbedingt sehenswerter „Black Moon“ (1975) aus der Chronologie fällt und einige der Cocteau-Filme mit Surrealismus wenig bis gar nichts gemein haben. Wer auch nur einen von ihnen gesehen hat, ist für die Realität des heutigen Films sowieso verloren. Und das wiederum hat irgendwie was einigermaßen Surreales. Philipp Bühler

Die Surreale beginnt heute. Die Filme präsentiert das Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77.

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