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Berauscht vom Raster

Ernst Neufert ist weltbekannt durch seine architektonische Elementarlehre. Nun machen ein neues Buch und eine begleitende Ausstellung in Weimar-Gelmeroda auch die Schattenseiten seiner modernen durchmechanisierten Bauauffassung deutlich  ■   Von Axel Drieschner

Ernst Neufert wollte das Bauen neu ordnen, durchrationalisieren und der industriellen Massenproduktion erschließen. Sein Hauptwerk als Autor, die 1936 herausgebrachte „Bauentwurfslehre“, trug diese Botschaft in alle Welt. In allen denkbaren Sprachen bekannt und in Deutschland gerade das 35. Mal aufgelegt, darf das Nachschlagewerk wohl als das am meisten verbreitete Architekturbuch überhaupt gelten. In großer Fülle werden dort die elementaren Entwurfsgrundlagen aller nur erdenklichen Bauaufgaben vorgestellt und in Hinblick auf den menschlichen Raumbedarf durchdekliniert: Welchen Abstand sollen Kaffeehaustische haben, welche Grundfläche braucht ein Raum mit drei Betten? Gründe für den immensen Verkaufserfolg waren der direkte Blick auf die Praxis und die für Ratsuchende schnell erfassbare visuelle Präsentation des Gebrauchswissens.

Neuferts einfach gehaltene Grafiken haben fast schon Kunststatus erlangt. Die mechanisch agierenden und gesichtslosen Strichmännchen, die sie bevölkern, begegnen uns heute wie surreale Chiffren des „One-Dimensional Man“. Den historischen und aktuellen Dimensionen des Phänomens Neufert wurde nun erstmals eine Monografie gewidmet, die ein Ausstellungsprojekt der Stiftung Bauhaus Dessau begleitet. Lange war die Person Neufert hinter seinem Werk unsichtbar gewesen. Erst mit Beginn der 80er-Jahre rückten Werner Durth und Wolfgang Voigt die brisanten Hintergründe seiner Biografie ins allgemeine Bewusstsein. In den einleitenden Artikeln des neuen Bandes wird nun deutlich, wie der Architekt mit der Attitüde des Unpolitischen seine berufliche Karriere über den Wandel der Systeme, also von der Weimarer Republik über das „Dritte Reich“ in die neue Bundesrepublik hinüber retten konnte. Angefangen hatte sie in den 20er-Jahren in einem Laboratorium der Moderne, dem Architekturbüro des Bauhaus-Direktors Walter Gropius. Hier war er vor allem als versierter Bautechniker gefragt. Jung schon Bürochef, war er auch am Bauhaus-Gebäude in Dessau planerisch beteiligt.

Wenig später, im Jahre 1926, ging Neufert als Lehrer nach Weimar an die dortige Bauhochschule. Hier legte er für seine Schüler eine Sammlung gebäudekundlicher Hilfsblätter an, mit deren Hilfe sich die Planungsarbeiten beschleunigt und vereinfacht durchführen ließen. Die Sammlung sollte den Grundstock für die später veröffentlichte „Bauentwurfslehre“ bilden. Nun schrieb sich das Neue Bauen ja insgesamt eine Versachlichung des Entwurfsverfahrens auf die Fahnen, doch am Ideal des freien Schöpfertums rüttelten seine Protagonisten kaum. Neufert aber, so Gernot Weckherlin in seinem profunden Buchbeitrag, beseitigte das Arkanum, das den Atelierbetrieb seit alters her umgab. Die Rolle des Architekten war von nun an durch die saubere Beherrschung schematisierter Arbeitsschritte definiert.

Als die Weimarer Lehranstalt 1930 durch den thüringischen Innenminister und Hitler-Parteigänger Wilhelm Frick geschlossen wurde, verlor Neufert seine Stellung. Nach der „Machtergreifung“ im „Reich“ wurde ihm erst einmal die Berufsausübung untersagt. Mit seiner 1936 veröffentlichten „Bauentwurfslehre“ hatte er freilich einen ungeahnten Verkaufserfolg. Hitlers Generalbauinspektor Albert Speer sicherte sich daraufhin Neuferts Sachverstand und benannte ihn als Beauftragten für Normung und Rationalisierung im Wohnungsbau. Neufert gelangte nun in den engeren Kreis um Speer. Ab 1940 plante er Typenwohnungen und luftkriegstaugliche Mietshäuser. Den immensen Wohnraumbedarf für die Epoche nach dem „Endsieg“ wollte er mittels monströser, von Taktkolonnen bedienter Hausbauautomaten befriedigen. Vor dieser bauindustriellen Wunderwaffe verblassten alle älteren Visionen von der Wohnung vom laufenden Band.

Auf dem Höhepunkt des Weltkrieges veröffentlichte Neufert in der Schriftenreihe des „Generalbauinspektors“ ein weiteres Hauptwerk, die „Bauordnungslehre“. Er selbst betrachtete das ambitionierte, aber weitgehend folgenlos gebliebene Traktat als sein eigentliches Vermächtnis. Die üblichen Umstände auf den Baustellen werden darin mit dem Turmbau in Babel verglichen: die eher wahllosen Abmessungen der vielen unterschiedlichen Bauteile verminderten unnötig ihre Passfähigkeit und verlangsamten den Baufortschritt. Als Allheilmittel dagegen verabreichte Neufert das Rastermaß, das für das Backsteinformat, die genormten Möbel und den Siedlungsgrundriss gültig ist. Obwohl vorgeblich vom „Maßstab Mensch“ abgeleitet und kulturgeschichtlich überwölbt, triumphierte in ihm ein forciertes technokratisches Ordnungsdenken. Das Gespenst einer eindimensional rationalistischen, pathologischen Moderne, das hier Gestalt annimmt, erhält in Klaus Ronnebergers Beitrag über den fordistischen Wohnungsbau als Mittel gesellschaftlicher Konditionierung weitere Konturen.

Darüber hinaus war aber der Vorstoß der „Bauordnungslehre“ Ausdruck politischer Ideologie. Ethische und praktische Bedenken gegen das fachverengte Machbarkeitsdenken verloren im autoritären „Führerstaat“ an Geltungskraft. Dabei, so scheint es, geriet Neufert auch ins Fahrwasser holistischer NS-Utopien, die gegen das „formlose Chaos“ der gesellschaftlichen Welt eine diktatorische Neuordnung nach „rationalen“ Kriterien verlangten. Gehörten somit die Kategorien „Maßeinheit“ und „Rassenreinheit“ analogen Vorstellungswelten an? Leider spüren die Buchautoren diesen Verbindungen nicht genauer nach.

Als Praktiker war Neufert durchaus ein Architekt von Rang, wenngleich sein gebautes Werk in Vergessenheit geriet. Die Neuveröffentlichung – dies ihr stärkstes Manko – streift es nur beiläufig. Dabei galten Neufert Theorie und Baupraxis als die beiden Seiten derselben Medaille. Am eindrucksvollsten illustriert dies sein Wohn- und Atelierhaus in Weimar-Gelmeroda. Im Jahre 1929 als Versuchsbau im Blockhausstil auf einem vom Bettenmaß abgeleiteten Modul errichtet, veranschaulicht es auf ideale Weise die Grundgedanken seiner noch im Werden begriffenen Bausystematik. Das ihm eigentlich gemäße Genre aber bildete der Industriebau. Die ersten Arbeiten entstanden noch unter Gropius' Ägide, im „Dritten Reich“ folgten Aufträge der Rüstungsindustrie und der Luftwaffe. Nach dem Krieg verlegte er sich auf den Bau weitläufiger Betonfabriken, deren Silos und Maschinenhäuser er wie die expressiven Gebäudeskulpturen Gottfried Böhms als Großplastiken auftürmte. Insgesamt jedoch sank hier die Gestaltungsvielfalt durch stoische Wiederholung einheitlich bemessener Bauelemente bis nahe Null. Ähnlich beklemmend der Minimalismus des Quelle-Versandhauses in Fürth.

Neuferts Spätwerk bildet somit bereits eine Vorausschau auf die folgende Ära des Systembaus und ihren seelenlosen Schematismus; nicht ohne Grund war es Günter Behnisch, damals ein namhafter Verfechter der Großtafel-Bauweise, der 1967 auf seinen Lehrstuhl an der TH Darmstadt nachrückte.

Walter Prigge (Hrsg.): „Ernst Neufert. Normierte Baukultur im 20. Jahrhundert“, Campus Verlag, Frankfurt 1999, 480 S., 78 DM. Die Neufert-Ausstellung in Weimar-Gelmeroda läuft vom 25. 11. bis 1. 5. 2000

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