: Mutierte Zeichen
Blicke, die fremd werden: Die Ausstellung „Mutanten“ zeigt die Comic-Avantgarde der 90er ■ Von Ole Frahm
Oft ist es eine ganz einfache, ganz alltägliche Geschichte, die einen bannt. Keine Story um Geld. Auch keine, in der die Liebe verschlungene Wege nimmt, denn die Liebenden finden sich hier so sicher, als sei dies nie anders. Aber etwas ist anders. Ist es der Torso mit dem Skelettkopf auf dem Wägelchen, der die Geschichte erzählt? Oder ist es diese fast schon beiläufige Fragmentiertheit, die das eigene Leben fremd werden lässt? Vielleicht fesselt einfach der wenig alltägliche Bleistiftstrich des Zeichners Markus Huber. Sein Comic verändert den Blick: Plötzlich kommentieren Skelettköpfe auf Wägelchen das kurze Leben.
„Mutanten – Die deutschsprachige Comic-Avantgarde der 90er Jahre“ heißt die Ausstellung, die unter anderem den in Hamburg lebenden Huber in Düsseldorf präsentiert. 12 weitere Zeichner erlauben den Augen dort neue Erfahrungen: Berliner wie Atak, CX Huth und Holger Fickelscherer, Schweizer wie Anna Sommer und Thomas Ott, aus Hamburg sind des Weiteren Anke Feuchtenberger und Martin tom Dieck vertreten. Er dürfte den taz hamburg-Lesern vertraut sein: Manchmal lässt er sich zur einen oder anderen Illustration überreden. Sie alle haben im Comic-Magazin Strapazin veröffentlicht, deren Herausgeber Sabine Witkowski und Christian Gasser diese aufregende Ausstellung kuratiert haben.
Mutanten: Anke Feuchtenberger zerlegt in 10 unfassbar schönen Tafeln den menschlichen Körper in Einzelteile: Einfache, aber eigentümliche Sätze umschließen – unterbrochen von Bildern – ein Geheimnis, das auch die Bilder nicht ausplaudern. Dennoch, deshalb lässt sich eine Erfahrung erahnen, die nur zwischen den unterschiedlichen Zeichen geborgen werden kann: Eine Erfahrung der Fremdheit im geteilten Nebeneinander von für sich vertrauter Schrift und vertrautem Bild. Eine Erfahrung der Fremdheit, in der das „Körper“ Genannte wiedererkennbar wird.
Mutanten: Wellen, die keine Wellen sind, Wasser aus Papier... Im Milieu der Comics von Martin tom Dieck wird der Unterschied zwischen Schrift und Bild fliessend. Ständig verwandeln sich Buchstaben in Bilder, Zeichnungen zu Zeichen, denen wiederum eine erst zu entziffernde Bildsprache gegenübersteht, nein, nicht gegenübersteht – die Übergänge sind fließend, nie vereint sich der Strom der Bilder einfach, immer wieder zieht es die Augen in Strudel, die schließlich Bild und Schrift getrennt an die Ufer spülen.
Mutanten: Teile der Gesellschaft, die in ihr keinen Ort finden. Comics, die keine Comics sind, die nicht beanspruchen, Kunst zu sein, von Literatur ganz zu schweigen. Die in Düsseldorf zur Schau gestellten Zeichen mutieren selbst. Ständig müssen sie auf ihre Aussagekraft hin geprüft werden. Der Fremdheit der Zeichen nicht auszuweichen, mit ihr, mit ihnen zu spielen, die Alltäglichkeit der Mutation zu verfolgen, ohne sie je einzuholen: Dieser Ethos den Zeichen gegenüber verbindet die Zeichner von Mutanten – Die deutschsprachige Comic-Avantgarde der 90er Jahre. Sie genießen das Chaos der Zeichen und hinterlassen so darin mit ihrem persönlichen Handbild unverwechselbare Spuren. Deshalb handelt es sich bei ihnen kaum um eine Avantgarde: Sie graben eher im Untergrund des alltäglichen Zeichengebrauchs.Gelegentlich sind die so entstandenen Tunnel als Installation begehbar, wie die ausgestellte Geisterbahn Bastianworld des Schweizer Zeichners M. S. Bastian. Die weite Reise in diese gruselig bezaubernde Unterwelt lohnt: Sie lässt mehr als eine Gewohnheit einstürzen.
Mutanten – Die deutschsprachige Comic-Avantgarde der 90er Jahre. NRW-Forum Kultur und Wirtschaft Düsseldorf, Ehrenhof 2, bis 9. Jan., täglich11 bis 24 Uhr
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