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Europäischer Friedhofsritus

■ Beobachtungen bei einer Beerdigung in England. Der britische Ethnologe Nigel Barley beschreibt die Grablegung seines Vaters, wie sie nach zeitgenössischer Sitte gepflegt wird

Es war ein Tag, so recht geeignet für eine Beerdigung, einer jener kalten Wintertage, an denen es gar nicht richtig hell wird und an denen alles grau und unbestimmt bleibt. Schmuddeliger Nieselregen suppte von einem Himmel herab, der den einzigen farbigen Punkt beisteuerte, einen verwischten roten Fleck Sonne wie ein entzündetes Auge.

Das Auto parkte auf nassem Asphalt, und als wir ausstiegen, schnitt uns der Wind ins Gesicht. Dumpf knarrten und schlugen hinter uns andere Autotüren. Hinsichtlich der passenden Trauerkleidung hatte man sich offenbar nicht recht entscheiden können: Vollständig in Schwarz zu gehen, hätte affektiert, und auf deutliche Zeichen der Trauer zu verzichten, allzu salopp gewirkt.

Ein Mann schien nahe daran, aus eigener Machtvollkommenheit jene Zeiten wiederzubeleben, in denen man zum Beweis seiner Trauer die Kleider von innen nach außen kehrte oder sich seine Unterhosen über den Kopf stülpte. Die Förmlichkeit über alle anderen Rücksichten triumphieren lassend, hatten die Frauen zumeist helle Hochzeitshüte wieder in Dienst gestellt und sie mit einem schwarzen Band geschmückt. Wir sahen aus wie eine Gruppe Vertriebener. Selbst den Kaltschnäuzigen trieb die Kälte Tränen in die Augen. Wir schlurften hinein, feuchte Sacktücher umklammernd, schniefend vor Kälte, Kummer und Konvention. Der Sarg meines Vaters war schon da, eine Person, die sich auf ein Erdmöbel reduziert hatte, das von unkrautartigen Blumen bedeckt war. Bei solcher Gelegenheit irren die Gedanken ab und beißen sich an Nebensächlichkeiten fest. Wo kriegen sie mitten im Winter Blumen her?

Das Krematorium war ein nüchternes Gebäude für gemessene Kummerbekundungen, errichtet aus Ziegelmauern mit einem Fischgrätenmuster aus vorstehenden Ziegeln, die allmählich zerbröselten. Auf einer Reise durch englische Milieus trifft man viele solcher Gebäude – Orte, an denen ohne Gefühl bürokratische Prozeduren abgewickelt werden. An der Rückwand befand sich ein Kamin, der irritierend nach Auschwitz aussah. Wir rechneten jeden Augenblick damit, eine schwarze Rauchwolke aufsteigen zu sehen.

Mein Vater war sein Leben lang antikirchlich eingestellt; zu Weihnachten gefiel er sich in nichts mehr als in komischen Darbietungen schwafelnder Geistlicher. In seinen letzten Jahren indes schloss er sich einer spiritistischen Sekte an und behauptete, mit dem Jenseits in Kontakt zu stehen. Es kamen „Botschaften von drüben“, die sich um den bevorstehenden Winter drehten, um den plötzlichen Tod einer Tante, der dann tatsächlich eingetreten war.

Einen Pfarrer gab es hier nicht; er wurde auch nicht vermisst. Stattdessen legte ein führender Kopf der spiritistischen Sekte in schwarzem Anzug und Schlips „Zeugnis“ ab. Er spielte Pressekonferenz, schwitzte, benutzte Notizen, stolperte ein- oder zweimal über den Namen meines Vaters. Der erbauliche Gehalt seiner Rede bestand aus Gedanken über Sterblichkeit und Ewigkeit, die sich auf Reader's-Digest-Niveau bewegten; letztlich kamen sie dem ziemlich nahe, was uns ein salbadernder Geistlicher geboten hätte.

Ein Grundthema bildete, dass der Mensch mehr sei als Fleisch und Blut. Tod war dort, wo das reinlich Spirituelle über das besudelte Fleisch triumphierte, die Hygiene, die sich einer Art Wegwerfbinde entledigte. Das Heuchlerische des Ganzen erfüllte mich mit Zorn. Wir machten uns gemeinsam etwas vor und waren uns unseres ehrlosen Tuns bewusst. Das fadenscheinige Ritual kaschierte nur notdürftig die krude Realität.

Von den Gesichtern der Spiritisten konnte man ablesen, wie begierig sie darauf waren, bei der nächsten Séance Kontakt aufzunehmen und mit ihrem Bürstendetektor am Kristall des Todes zu kratzen. Wären wir in Afrika, würde ich mich für ihre Gedanken interessieren. Ich würde ihre Äußerungen in Gänsefüßchen setzen und damit gegen jeden Zweifel immunisieren. „Die Bongo-Bongo“, würde ich unbeschwert und voll Gottvertrauen schreiben, „sind der Überzeugung, dass ...“

Eine Falltür öffnete sich wie im Theater und der Sarg verschwand, allerdings nicht in einer Rauchwolke. Ein Priester, mit dem ich mich einst unterhielt, erzählte mir, wie wichtig die Tür sei. Man brauche etwas, das sich öffne und schließe, das ein Ende anzeige, deutlich mache, dass alles vorüber sei. Die Leute in der vordersten Reihe beugten sich vor; vielleicht hofften sie, eine züngelnde Flamme zu sehen. Ich wollte nur noch fort. Nigel Barley

Gekürzter Auszug aus: „Tanz ums Grab“. Klett-Cotta 1998, 305 S., 39,80 DM. Barley beschreibt den Umgang verschiedener Kulturen mit dem Tod.

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