piwik no script img

„Opfer werden fertig gemacht“

■  Schüler sind gnadenlos tapfer: Gewalt untereinander stecken sie weg, Notenfrust überspielen sie mit dem Flammenwerfer im Videospiel „Quake II“. Schüler des Berliner Beethoven-Gymnasiums diskutieren über Schule und den Lehrermord in Meißen

taz: Was war eure erste Reaktion, als ihr davon gehört habt, dass in Meißen ein Schüler seine Lehrerin vor den Augen der Klasse erstochen hat?

Laura: Ich war erschrocken. Schon wieder Leute, die dabei stehen und nicht eingreifen.

Alexander S.: Der hat 22-mal auf seine Lehrerin eingestochen. Da war doch genügend Zeit, was zu tun.

Danny: Ich habe mich gefragt: Warum hat er das getan?

Hast du eine Antwort darauf gefunden?

Danny: Wir haben in der Klasse darüber geredet. Aber auf die individuellen Beweggründe kommt man nicht.

Habt ihr von dem geträumt, was in Meißen passiert ist?

Katarina: Ich sitze in meiner Klasse in der ersten Reihe. Schon nach dem Attentat in Littleton in den USA, bei dem im April Schüler ihre Mitschüler umbrachten, habe ich mir vorgestellt, dass ich als erste dran bin, wenn jetzt einer reinkommt und losballert. Man weiß ja, dass das nicht mehr nur in Hauptschulen passiert. Man fragt sich: Wer könnte das hier in dieser Schule machen?

Jasmin: Ich habe mir genau ausgemalt, wie ein Maskierter in meinen Klassenraum kommt. Wie er mit einem Messer in der Hand durch die Tür tritt. Ich hatte einen Lehrer im Kopf, der angegriffen wird.

Einen bestimmten Lehrer?

(Die Schüler beginnen zu lachen.)

Jasmin: Ja.

Jemanden, den du nicht magst?

Jasmin: Doch, ich mag den.Aber ich könnte mir schon vorstellen, dass jemand auf so eine Idee kommen könnte.

Warum?

Jasmin: Der ist halt ziemlich dominant. Ich finde, das ist ein sehr guter Lehrer, und ich würde auch niemals daran denken, ihn umzubringen oder so etwas. Aber im ersten Moment ist er mir schon in den Kopf gekommen.

Autoritäre Lehrer haben es also schwerer?

Laura: Eigentlich nicht. Über die, die überhaupt nicht streng sind, wird zum Beispiel gelacht.

Danny: Wenn man neue Lehrer bekommt, testet die ganze Klasse die Grenzen aus. Bei manchen Lehrern sind wir immer noch auf keine gestoßen.

Viele Leute denken: Bei Lehrern, bei denen es drunter und drüber geht, kommt irgendwann einer und sticht zu.

Danny: Das ist doch Quatsch. Verbale Gewalt gegen Lehrer kommt oft vor – reale Gewalt gar nicht.

Jasmin: Ich habe letzte Woche ein Gespräch über eine Lehrerin mitgehört, die alles durchgehen lässt. Da hieß es, als Anspielung: „Ich bring' die um wegen der schlechten Zensur.“ Und einer antwortete: „Das lohnt sich doch gar nicht.“

Der Täter hatte angeblich schlechte Zensuren bei der Lehrerin. Lasst ihr euch von Noten unter Druck setzen?

Laura: Das ist doch kein Grund, jemanden umzubringen. Jeder schreibt mal schlechte Zensuren. Ich komme mit einer Lehrerin, bei der ich nicht besonders gut bin, als Mensch total gut zurecht.

Alexander K.: Das Elternhaus ist wichtig. Wenn einer ein glattes Zweier-Zeugnis hatte – und kommt auf einmal mit einem Fünfer nach Hause, dann kann ich mir vorstellen, dass der Stress kriegt.

Katarina: Es gibt auch Lehrer, die den Spieß umdrehen. Die fragen einen dann, ob es „wieder bloß zu 'ner Fünf“ gereicht hat.

Danny: Es geht schon nach dem Schubladenprinzip. Hat man drei schlechte Noten geschrieben, kommt man aus der Schublade schwer wieder raus. Da erwartet keiner, dass plötzlich eine Eins kommt.

Kennt ihr dieses Scheiße-schon-wieder-'ne-Vier-Gefühl?

Danny: Natürlich. Aber das lässt man doch nicht raus. Und das will man am liebsten auch nicht von anderen hören.

Laura: Entweder sitzt man dann heulend vor der Arbeit und sagt: „Scheiße.“ Dann kommen die anderen aus der Klasse, aber auch, um einen zu trösten. Oder man redet mit niemandem drüber – außer mit den Eltern oder einer guten Freundin.

Was macht ihr bei mit schlechten Zensuren? Frustet ihr rum?

Danny: Ich geh nach Hause und reagiere mich ab, am Computerspiel, Nintendo 64 oder so.

Hat denn jeder sein Videogame zu Hause?

Alle: Ja, schon.

Welches sind die Renner unter den Videospielen?

Danny: Das ist sehr individuell. Das beste sind Sportspiele, Strategiespiele - oder Ballerspiele wie „Half Life Unreal“ oder „Goldeneye“. Bei „Quake II“ kann man unter verschiedenen Waffen wählen, vom Messer bis zum Flammenwerfer ...

Alexander K.: ...und man muss sich dann entschieden, ob man die Opfer am Kopf oder besser am Arm erwischen will.

Sieht man es den Schülern am Verhalten an, dass jemand vieleBallerspiele macht?

Jasmin: Was man denen anmerkt, ist, dass sie jeden Tag vor der Playstation oder am Computer sitzen. Denen fehlt einfach die Zeit, sich Gedanken zu machen.

Alexander S.: Die Leute können fast nur noch über ihre Computerspielerei sprechen.

Danny: Das Spielen fördert die Kommunikation. „Hast du gestern 'Breakdown‘ gesehen?“ Darüber spricht man.

Jasmin: Glaubst du echt, du würdest mit denen sonst gar nicht reden? Es bringt doch gar nichts, nur über diesen Computerscheiß zu reden. Das sind keine lebensentscheidenden Dinge.

Danny: Lebensentscheidende Dinge? Ich hab' nun mal keinen Bock, mich über Politik zu unterhalten.

Bilden sich durch solche Spiele auch Cliquen?

Danny: Nein, das wechselt doch dauernd. Zwei Wochen ist „Age of Empires II“ in. Und dann ist es wieder ein anderes Spiel.

Woran erkennt man eine Clique: an den Klamotten?

Danny: Erst der Charakter, dann die Kleidung.

Welche Gruppen gibt es?

Danny: Gangster und Asseln.

Was ist der Unterschied?

Danny: Das eine sind die Baggy-Träger und die anderen Cordhosen-Träger.

Katarina: Und Schicksen gibt es auch noch. Die mit Absätzen, Täschchen und so.

Gibt es ein Gruppe, der man gerne angehören würde?

Laura: Am Anfang ist das schon so. Wenn man neu irgendwo hinkommt, sagt man sich, die sieht aber toll aus, der Stil gefällt mir.

Danny: Man wäre absolut geoutet, wenn man sagen würde: Ich will so sein wie der.

Wie heissen die, die keiner Gruppe angehören?

Alle: Opfer.

Danny: Opfer sind Außenseiter. Die werden von der Klasse fertig gemacht. Das sind die Opfer der Gesellschaft.

alle: Ja, genau.

Woran erkennst du ein Opfer?

Danny: Vom Klischee her sind das die mit Seitenscheitel, Levi's 501 und Disney-Pullover. Oder Robbin-Hood-Leggins.

Jasmin: Opfer ist jemand, der keinen eigenen Stil hat.

Katarina: Es liegt am Verhalten. Das sind Leute, die nicht integriert sind in die Klasse. Die reden über Sachen – irgendwie komisch. Und dann verhalten die sich oft so anhänglich.

Alexander S.: Jemand halt, der so völlig aus der Rolle fällt. Eigentlich jemand, der anders ist.

Laura: Es gibt die Standard-Opfer, die ausgelacht werden, seitdem sie in der Klasse sind. Und dann sind da welche, mit denen man mal befreundet war. Dann sagen andere: „Der ist ja voll blöd“, oder so. Oder man hat sich gestritten. Und irgendwann fängt man dann an, selber schlecht über den zu denken.

Macht ihr euch Gedanken, wie es den Leuten geht?

Alle: Ja.

Danny: Eigentlich ist es so, dass man aus dieser Rolle gar nicht mehr raus kommt. Die versuchen das irgendwann gar nicht mehr. Und sie reagieren auch nicht, wenn man selber aktiv probiert, Kontakt aufzunehmen. Die kapseln sich selber völlig ab.

Habt ihr erlebt, dass jemand versucht, sich mit Gewalt aus der Opferrolle zu befreien?

Danny: Das bringt überhaupt nichts.

Jasmin: Das beobachtet man eher im Kindergarten, dass sich Außenseiter mit Kratzen und Beißen wehren. Hier im Gymnasium wird von einem was anderes erwartet.

Laura: Man bricht dann eher selber zusammen. Man fängt an zu heulen, philosophiert über das Leben oder denkt daran, sich umzubringen. Dann ist aber die ganze Klasse für einen da.

Katarina: Das war bei uns immer so. Wenn jemand schwach wird, sind alle für ihn da. Wenn man diese Schwäche aber inszeniert, dann nimmt einen keiner mehr ernst.

Was haltet ihr von der These, die nach dem Schülermord in Littleton verbreitet wurde: Dass diejenigen, die das gemacht haben so aus Ihrer Außenseiterrolle auszubrechen versuchten. Opfer, die zu Tätern wurden.

Jasmin: Ich glaube, dass das Leute sind, die was beweisen wollen. „Guckt mal, wenn ich will, kann ich sogar einen Menschen töten.“ Das ist eine ganz krasse Macht, die man da auf einmal demonstrieren kann. Das will man zeigen.

War einer von euch mal Opfer?

Laura: Ich glaube, dass man ganz ganz schnell in so eine Rolle hineinrutschen kann. Aber irgendwie verlässt man sich auf seine Freunde.

Interview: Margret Steffen

und Christian Füller

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen