piwik no script img

Hamburg hat es überlebt

Jahr 2000-Silvester an der Binnenalster: 300.000 Leute gucken Feuerwerk, hinterlassen Müll, und Dagmar Berghoff sagt Tschüss  ■ Von Peter Ahrens

17 Uhr: Der erste Sekt muss runter. Spätestens als Carlheinz Hollmann, der große Veranstalter, darauf hinweist, dass um 23.52 Uhr das Vaterunser aus dem Michel live an die Alster übertragen wird „dank ABT-Tontechnik“ und anfügt: „Auch ich werde mitbeten.“ Auf der „Millennium-Bühne“ von Radio Hamburg am Alsteranleger werden Hits gespielt. Mit „You're my Heart, you're my Soul“ (98er Version) und „Mambo Nr. Five“ erinnert man uns nachdrücklich daran, wie gut es ist, dieses Jahrtausend endlich hinter uns zu lassen.

18 Uhr: Es ist kalt. Moderatorenwechsel auf der Millennium-Bühne. Jetzt stehen da zwei in ihren Schlabberhosen und knallroter Radio Hamburg-Jacke, die sich als Bimsen und Bömsen vorstellen und die besten Hits der „Top 2000“ abspielen. Bimsen und Bömsen springen herum, halten ihr erigiertes Mikro ins Publikum, worauf das sofort anfängt zu schreien. Bimsen sagt: Mega-Stimmung.

19 Uhr: An der Binnenalster sind Videowände aufgestellt, auf denen Werbespots für Nico Pyrotechnik laufen. Vor dem Rathaus bereitet der NDR die Live-Schaltung zu Karl Moiks Silvesterstadl vor. Sekt her.

19.50 Uhr: Auf der Videowand stolpert ein Butler über einen Tigerkopf.

20 Uhr: Bimsen und Bömsen üben zum vierten Mal mit dem Publikum den Silvester-Countdown. Dagmar Berghoff sagt über Leinwand: „Tschüss von diesem Platz.“

21.50 Uhr: Dagmar Berghoff steht jetzt vorm Rathaus. Sie spricht via Fernsehen mit Karl Moik. Berghoff sagt, wie toll der Abschied war. Dann spielt eine Band, die Piratenkostüme trägt, zum Voll-Playback „Wir lieben die Stürme“ und „Wir lagen vor Madagaskar“. Zurück zum Silvesterstadl. Dringend Sekt.

22.30 Uhr: Jeder sichert sich schon mal einen Platz rund um die Binnenalster und räumt den in den kommenden zwei Stunden nicht mehr. Hollmann sagt: „Hier sind 1,2 Millionen Menschen versammelt“ und verschätzt sich nur um 900.000. Die Polizei spricht von 300.000 Besuchern. Einer schießt eine Silvesterrakete in den Himmel und hat eine Spaßbrille mit einem Gummipenis als Nase aufgesetzt. Bimsen und Bömsen rasten ob der Tatsache, dass es immer noch trocken ist, völlig aus. Mega-Stimmung, klar. Nochmal Countdown.

22.58 Uhr: Auf Platz eins der Top 2000 landet Cher: Believe.

23.30 Uhr: Die ersten Betrunkenen pinkeln in die Alster und lachen. Die zweite Sektflasche ist bald leer.

23.52 Uhr: Vaterunser. Glockenläuten.

23.58 Uhr: Sekt ist aus.

0 Uhr: Feuerwerk. Ganz nett. Das größte Feuerwerk Europas. Berlin hat dagegen lediglich das größte Feuerwerk Deutschlands.

0.30 Uhr: Carlheinz Hollmann gibt auf den Heimweg mit: „Genießen Sie das Leben.“ Man schwört, es zu befolgen, falls man das Geschiebe überleben sollte.

1 Uhr: Die U-Bahn ist proppenvoll. Einer ruft: „Fahrkarten bitte“, und die Leute lachen, als hätten sie den Witz zum ersten Mal gehört. Alle anderen haben noch Sekt.

2.45 Uhr: Im Radio kumpelt der NDR-Reporter mit dem Chef des Krisenstabes, Staatsrat Wolfgang Prill, herum. Prills Standard: „Es ist alles gut gegangen.“ In der City bleiben 100 Tonnen Müll zurück. Es wird ein gutes Jahr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen