piwik no script img

Gib mir ein Leitbild!

Von der allmählichen Verfertigung flacher Visionen (auch an deutschen Hochschulen): Wem könnte eine neue Vereinheitlichung gesellschaftlicher Rollen nützen? Anmerkungen zur Leitbilddiskussion ■ Von Peter Fuchs

Wir leben im Pauschalkonsens für eine unbestimmte Zukunft, von der irgendwelche Experten wissen, wie sie sein wird

In vielen Institutionen und Organisationen unseres Staates und seiner Anrainer köchelt eine seltsam trübe Suppe – die Leitbilddiskussion. Kaum einer bleibt verschont. Vom Kirchenkreis an der Ruhr über die Nassauische Sparkasse, von den Gymnasien Gymburg und Burgdorf über die Grünen und Gelben und Schwarzen, von der Humboldt-Universität zu Berlin über die Fachhochschule Dortmund, vom naturhistorischen Museum in Basel über die Kindergärten bis hin zur Otto-Guericke-Universität in Magdeburg, eine endlos verlängerbare Liste – überall verpasst man sich Leitbilder, durch die man sich an Modernität, was immer das heißen mag, zu orientieren sucht. Selbst auf der Intensivstation, die mich kürzlich beherbergte, lächelte mich ein Pflegeleitbild an, das mich (ehe ich das Bewusstsein verlor) an die Steintafeln des Dekalogs vom Sinai erinnerte, nur dass es auf gelbes Metall gedruckt und fein poliert war.

Das ist nicht sonderlich tragisch, denn irgendwie muss man ja die Zeit hinschlachten, die dem Menschen gegeben ist, und was eignet sich besser dafür als das gemeinsame Erzeugen von Leitbildern, die bezeichnen, was man nicht ist, aber werden will? Es geht um Richtschnüre, Vor- und Maßgaben für Zukünftiges, um Ideale, Missionen, Messages, die zu verfertigen nicht allzu schädlich scheint, da die Bilder des Zukünftigen mangels Realitätskontaktes immer nur flach ausfallen können. Gerade darum müsste man sich nicht aufregen über diese munteren Beschwörungen, zum Beispiel der allenthalben vorgetragenen Beschwörung des guten, tüchtigen, des persönlich engagierten Dienstleistungsmenschen, des Homo servans, des Servizen, wie man vielleicht sagen könnte, der nichts weiter wäre als ein Mehr-als-nötig-tuender Mensch, der fröhlich durch seine Organisation spaziert und die Kundschaft vom Pflegekunden über den Studentenkunden bis his zum Sozialhilfeempfängerkunden so anstrahlt, dass sie zurückstrahlt – in einer gemeinsamen schönen neuen Welt. Warum sollte man sich ärgern, wenn Utopien in einer utopiefreien Gesellschaft auf Organisationsniveau zu Leitbildern, zu mission statements getrimmt werden, also ein Reservat und heimeliges Asyl gefunden haben? Solche administrativen Visiönchen sind ein wenig einfältig, aber man könnte doch einfach dem Wirbel zusehen und ihr Verpuffen abwarten. Man sieht ja auch kaum noch Tamagotchis.

Und doch –

diese Möglichkeit des würdevollen Abwartens, das sich erwachsene Leute gönnen dürfen, verbietet sich aber dann und mit Macht, wenn eine solche Mode die Orte erreicht, an denen Intelligenz nicht die knappste aller Ressourcen sein sollte und an denen deshalb eine hohe Empfindlichkeit für Prozesse herrschen müsste, die Freiheit betreffen. Ich meine unsere Hochschulen, und ich meine insbesondere die Hochschulen, die nach dem Mauerfall Horte und Pflanzstätten einer gerade errungenen Freiheit sein wollten. Sie muten sich jetzt, als wäre dies nicht im mindesten fragwürdig, ja geradezu von metaphysischen Instanzen gewollt, im Gewande der Selbstorganisation Leitbilder zu. Wahr ist, dass die Formulierung solcher Bilder trotz Langsamkeit der Gremien leicht fällt. Man weiß mit Sprache umzugehen, und im Kern geht es ja nur darum, das berüchtigte „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ in eine moderne Terminologie zu übersetzen, die von Ministerien und Administrationen verstanden werden kann.

Das zuallererst Skandalöse daran ist diese Zumutung kognitiver Unterkomplexität. Schließlich wird Leuten, deren Intelligenz amtlich bescheinigt ist, angesonnen, sich festzulegen, sich einzureihen, sich unterzuhaken, sich auf gemeinsames Denken, auf gemeinsame Ziele zu verständigen, in einer Art Fischer-Chor zu bejubeln, was man gemeinsam werden wird. Darin liegt nicht nur eine Beleidigung jedes halbwegs klaren und trockenen Verstandes. Die Chancen jeder Zukunft liegen, wie nicht nur Soziologen wissen, in der Abweichung und nicht in der Konformität.

Nobelpreise bekommt man nicht immer für Wohlverhalten und Gleichschritt. Hammelherden sind nicht unbedingt durch Kreativität gekennzeichnet. Leitbilder aber sind erklärtermaßen und autologisch: Strategien der De-Individualisierung, die die kuhwarmen Freuden der Gemeinschaft verspricht – und sonst nichts. Am Leitbild werden „alle Entscheidungsträger“, so heißt es im Leitbild Düsseldorf, „gemeinsam ausgerichtet“. Sie werden verpflichtet-auf, nehmen also die Form von Fischschwärmen an, die sich in ihrem blitzenden Gemeinsam-durch-die-Gegend-Zucken immer an dem orientieren, der sich selbst nicht orientieren kann: also an dem frei und willkürlich zuckenden Spitzenfisch, der (wie in allen Organisationen die Führung) nur sehr dünn mit Informationen versorgt ist.

Immerhin aber hat man es mit Strategien zu tun. Organisationssoziologen und Theologen können das Modell erkennen. Es genügt nicht, dass jeder seinen Job tut, für den er bezahlt wird, es genügt nicht, dass der Pfleger pflegt, der Schlachter schlachtet, der Professor lehrt und forscht, die Verwaltung ihren Pflichten nachkommt und Chirurgen Gallenblasen entfernen. Alle sollen es einverstanden tun, begeistert und besoffen von der gemeinsamen Zukunft, begeistert und besoffen von Gemeinschaft. Dabei ist eine der zentralen Errungenschaften der Moderne, die Berufsrolle fein säuberlich zu separieren vom persönlichen Bezirk. So hat in Organisationen derjenige den burden of proof, die Beweislast, der nach dem Persönlichen fragt, das sich jenseits der Dienstzeit abspielt. Stattdessen feiern wir im Leitbild gemeinsam die von uns produzierte Vierfruchtmarmelade oder unseren Studienoutput und insgesamt: die große moderne Vereinheitlichung, die – man weiß nicht, wie – an die Stelle des Differenzenspiels der Postmoderne tritt.

Leitbilder der Hochschulen und ihrer Verwaltungen werden jedenfalls im Präsens und als Gebet vorgetragen: Die Übernahme von Verantwortung, wirtschaftliches Handeln und persönliches Engagement bestimmen unser Verhalten. Wir bieten an ... wir sind uns bewusst ... wir legen Wert auf ... wir schaffen ... wir sind kollegial ... kooperativ ... wir nehmen die Dinge ernst ... wir lassen uns kontrollieren ... wir haben ein aussagefähiges Berichtswesen ... wir mobben nicht ... wir lieben unsere Nächsten ...

Man könnte dies alles auch schadensfrei in einer Gebetsmühle rotieren lassen. Denn: Wir sind engagiert, das heißt in Wahrheit: Wir leben in einem Pauschalkonsens für eine unbestimmte Zukunft, von der irgendwelche Experten wissen, wie sie sein wird, und wir setzen unsere nebenberuflichen Lebenszeiten mehr und mehr dafür ein – entschädigungslos. Unterdessen tun wir so, als ob uns das gefällt: Wir lächeln halt mühsam, ein bisschen amerikanisch, ein bisschen mehr japanisch.

Aber sei’s drum. Die Hochschulen, so ließe sich sagen, sind selbst schuld. Sollen sie doch die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben. Der Punkt ist aber, sie haben sie gar nicht angerührt, sie sind es nicht gewesen, wie sehr es Beteiligung gegeben haben mag. Das Ganze steht, ich zitiere, im Kontext eines „Steuerungsmodelles“. Die Leitbilddiskussion ist amtlich angefordert. Sie ist verordnet, das heißt mit ministerialen Abgabeterminen verknüpft, auf die sich die Rektorate, Gremien und Verwaltungen einzustellen haben. Ein Narr, der dabei denkt, dass sich Ministerien, wenn sie denken, etwas Böses denken. Sie sind schließlich Paradigmen für das Es-geschieht-was-geschieht. Aber was da geschieht, wendet sich gegen die freien und die streitbaren Geister, gegen die Individualchaoten, deren Aufgabe doch evident darin besteht, Leitbilder zu zerstören, auszutauschen, umzustürzen – von Moment zu Moment und nach bestem Wissen und Gewissen: gegen alle Negationskontrollen, die sich die Administrationen durch die Konstruktion von Leitbildern versprechen, unbequem eben und eben deshalb innovativ und gerade dafür, wenn sie Glück haben, bezahlt.

Negationskontrollen, das sind Normative! Es geht in Wahrheit um Domestikation und Dressur. Der Trick ist es, die Leitbilder in (und auch hier zitiere ich) „Zieldefinitionen“ zu transformieren und an „Indikatoren“ zu koppeln. Leitbilder sind „zielorientiert“. Dabei gibt es Oberleitbilder (zum Beispiel das „zielorientierte Leitbild der Hochschule“), die die Unterleitbilder der Fachbereiche, Zentraleinrichtungen, Verwaltungen „zusammenführen“.

Was aber, zum Henkersknecht, ist ein „zielorientiertes Leitbild“?

Es ist im Moment, wo es mit Indikatoren und Direktiven verknüpft ist, ein Plan, ein Vor-Schreiben dessen, was nach- und abgeschrieben werden soll. Dies ist ein Revival der Planwirtschaft auf Sammetpfötchen, und eben darum ist es so hübsch, dass die Leitbilder, so sie erstellt sind, diskutiert werden müssen im Kontext einer „formelgebundenen und leistungsbasierten Hochschulfinanzierung“. Termine werden bekannt gegeben werden. Alles soll, so heißt es, zeitnah geschehen, also unter Ausschluss von Reflexion, also unter Ausschluss von Negationsmöglichkeiten.

Es lohnt zu vermerken und festzuhalten, dass bei alledem etwas mehr auf dem Spiele steht als nur eine weitere Modernitätsmarotte – nämlich Freiheit und die Offenheit der Zukunft, die man durch Beschwörungen nicht schließen kann. Der Systemtheoretiker in mir registriert, dass es um den Oktroi und die Annahme einer von mir und anderen als negativ bewerteten Alternative geht, mithin um Macht. Es ist zwar noch zu früh für ein J’accuse, aber doch höchste Zeit, die Aufmerksamkeit anzuspannen. Es wäre ein Grund für Scham, nicht wenigstens bemerkt zu haben, was hier geschieht.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen