: Der Sprung in der Platte vom Zeitmodell
■ Der Countdown zum Millennium lief auf ein Nicht-Ereignis hinaus. Wie Baudrillard ahnte: Geschichte ist die Bewegung zur Null
Jean Baudrillard hatte Recht. Vor zehn Jahren schrieb er: „Die Wiedervereinigung Deutschlands und eine ganze Menge anderer Dinge sind unausweichlich, nicht im Sinn eines Sprungs nach vorn, sondern weil das 20. Jahrhundert noch einmal neu geschrieben wird, aber verkehrt rum.“ Der Ausgangspunkt dieser Geschichtsschreibung war das Jahr null der Wiedervereinigung. Die Erzählung darüber hangelte sich zwar, wie üblich, am chronologischen Leitfaden entlang, aber eben verkehrt rum. Beginnend bei der Schwelle zum nächsten Jahrtausend ging sie rückwärts und kam bei der Wiedervereinigung an. Sie war der Null- oder Fixpunkt, auf den hin die vielen Rückblicke ausgerichtet waren. Die Wiedervereinigung selbst ereignete sich nach einer Vermutung Baudrillards gerade so rechtzeitig, dass dem Jahrhundert noch Zeit zum Aufräumen blieb, Zeit dafür, geläutert in das nächste zu treten, frei vom Ballast der Ideologien. Tatsächlich scheint es darum zu gehen, das Jahrhundert zu präparieren, damit es nicht noch einmal von seiner Geschichte heimgesucht wird, wie 1989 und selbst danach noch, als es allerorten zu Wiederbegegnungen mit Dingen kam, die man längst für abgeschlossen hielt, für abgearbeitet, abgespeichert, erledigt, hinterlegt in diversen Archiven, aus denen sie nun wieder hervorgeholt wurden. Archive hatten wahrscheinlich selten zuvor eine so aktuelle Aufgabe wie zu der Zeit, als sich vornehmlich nicht Historiker, sondern – zweckentfremdend – die Justiz daraus bediente. Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter spürten nach 1989 in alten Akten nach Besitztiteln, Beutekunst, Eigentumsverhältnissen, Entschädigungsansprüchen und Kündigungsgründen. Auch das eine Historisierung des Politischen, nur eben verkehrt herum. Hatten die archivierten Akten im historiografischen 19. Jahrhundert Geschichte in dem Volumen ihrer Akten produziert und administriert, übernahm Ende des 20. Jahrhundert die Geschichte im Aggregatzustand von Akten die Geschäftsführung der laufenden Verwaltung und der Rechtsprechung. Geschlossene Akten, die wieder geöffnet werden, werfen die Zeit zwangsläufig auf ihre Vergangenheit zurück. Auch so kann man das Baudrillardsche Verdikt verstehen, dass das Jahr 2000 nicht stattfindet. Es springt immer wieder auf eine bestimmte Stelle, wie eine Platte, die einen Sprung hat, oder wie jene sich permanent verabschiedende Abendgesellschaft Buñuels, die die erlösende Tonfolge auf dem Klavier vergessen hat und darum nie wirklich aufhören wird zu existieren. Die Geschichte, eine Endlosschleife.
Was sich schließlich nach 1989 wiederholte, war vielleicht weniger gespenstisch als es für Jacques Derrida den Anschein hatte, der die Spectres de Marx verkünden ließ, was die Stunde nach Glasnost und Wiedervereinigung geschlagen habe (Marx’ Gespenster, 1995). Das Zeitmodell der Geschichtsrasterung nach Marx/Derrida, das überall Wiedergänger wahrnahm, scheint nicht recht auf die Wiederholungen der letzten zehn Jahre zu passen. Es gehört zu Trauma, Schock, Revolution, rupture, fällt noch in die Epoche von Eisenbahn, Maschinengewehr und Blitzkrieg. Das amtlich verordnete Wiedergängertum nach 1989 dagegen sollte die unangemeldeten Gespenster gerade verjagen. Großangelegte Aufräumungs-, Kanonisierungs- und Befreiungsarbeiten am Ende des Jahrhunderts fanden statt, um unbequeme Heimsuchungen zu beenden. Gegen den Wiederholungszwang der Geschichte wurden die Myriaden von Retrospektiven aufgeboten. Die verbleibenden Jahre des Jahrhunderts waren der Umwälzung und Umwertung der Geschichte gewidmet, Baudrillard sprach von einem „Revisionismus der Geschichte selbst“, um danach garantiert Ruhe zu haben vor dem zwiespältigen 20. Jahrhundert. Gespenster, Ideologien, totalitäre Regimes, alles ad acta. Das war das Versprechen dieser letzten Dekade. Die Rückführung von gelagerten Akten in solche der laufenden Verwaltung ist darum kein Symptom einer Traumatisierung. Das Dispositiv dieser Herauf- oder Wiederholungen ist nichts Zustoßendes, sondern etwas Gesetztes, kein Trauma, sondern die Null.
Die Rückblicke, die vor unseren Augen abliefen, kamen immer bei irgendeinem Jahr null an. Wo aber in Historiografien eine Null auftaucht, hat ein Countdown stattgefunden. Zehn, neun, acht, usw. drei, zwei, eins, null. Die Abwärtszählung ist das Kennzeichen einer offiziellen Geschichtsschreibung am Ende des 20. Jahrhunderts, die wörtlich jeden Ausgang der Geschichte kontrolliert. Sie läuft auf etwas zu, das selbst kein Ereignis ist, sondern Ereignisse freisetzt. Die Wiedervereinigung war, anders als Revolutionen, ein solches geschichtsmächtiges Nicht-Ereignis. Sie mit dem Stellenwert null zu belegen, trifft die Sache ganz gut. Die Wiedervereinigung war bereits ein Begriff, bevor sie sich vollzogen hatte; ein politisch und rhetorisch, im Grundgesetz sogar schriftlich verankerter, antizipierter Zustand, einer, der eintreten sollte, eine Leerstelle, um die herum Politik gemacht wurde. Diese Art Geschichte wird nicht erst nachträglich aufgeschrieben, sie wird von Politikern gemacht. Sie unternehmen die Schritte, die notwendig sind, um dort anzukommen, bei der Wiederherstellung eines ursprünglichen oder Nullzustands, vor der Teilung. So stellt es sich jedenfalls retrospektiv, vom Jahr der Wiedervereinigung aus betrachtet, dar. Insbesondere der damalige Kanzler schien es begriffen zu haben und schlug nach dem 9. November 1989 zunächst beinahe täglich, dann weniger oft, ein „neues Kapitel im Buch der Geschichte auf“. Vom Jahr null aus gerann alles unmittelbar zu Geschichte. Die Zeit der Pferdekutschen und der Montagsdemonstrationen waren gleichermaßen historisch geworden.
Drei, zwei, eins, null. Und die Geschichte spult sich rückwärts ab. Sie rast auf ihre Bestimmung zu. Baudrillards Ausdruck aus der Astrophysik von der Befreiungsgeschwindigkeit scheint hier zu passen. Glaubt man ihm, so lässt sich der Zeitpunkt der Befreiung – das ist die Loslösung eines Körpers von einem Gestirn oder Planeten – genau berechnen. Geschichte wird planbar. Sie verbündet sich nicht mehr mit Fortschrittsglauben, Heilserwartung oder Apokalypse. Die Geschichte, die bei null beginnt, hat kein offenes Ende. Sie kennt einen eingetretenen Zustand, von dem aus sie sich ableitet. Von „Geschichte“ kann man überhaupt nur für die Phase reden, in der sie auf den Nullzustand zusteuert. Sie ist die Übergangszeit von dem einen in den anderen Zustand. Die Phase dazwischen. So gerät auch das Jahr null der Wiedervereinigung erst dann in eine erzählbare Bewegung, wenn es sich von einem anderen Zustand abhebt. Deutschland im Jahr null nach der Wiedervereinigung war ja bereits das zweite Jahr null, das Jahr Neuf Zero, mit Godards Filmtitel gesprochen, das Jahr Neun-Null oder Neu-Null (vgl. Klaus Theweleit, One + One, 1995). Jean-Luc Godard hatte 1990 einen Film über Deutschland nach dem Fall der Mauer gedreht, Rosselinis Anno Zero dabei im Blick. Der Zeitpunkt der Befreiung eines sich lösenden Körpers, von dem Baudrillard sprach, fiel im ersten Jahr null – 1945 – auf den 8. Mai: Tag der bedingungslosen Kapitulation oder eben Tag der Befreiung. Er verdichtete sich zur Stunde null, die nicht vergeht. Die auch keinen Anfang hat. Dann hätte sie Stunde eins heißen müssen. Mit „eins“ beginnen volle, epische Geschichtserzählungen. Null signalisiert: Anfang und Ende fallen zusammen. Diese zahllose Zahl markiert einen Haltpunkt, um wieder von vorn beginnen zu können. Sie bedeutet, den Störfaktor Geschichte (als Gespenster-Geschichte) auszuschalten, einzufrieren, zu archivieren. Darum baut die Geschichtszählung, die mit null beginnt, einen Vektor ein. Er verkehrt die fortlaufende Zeit, um sie unschädlich oder, wie es hieß, wieder gutzumachen. Seine Zählweise ist der Countdown.
1945 als Jahr null war in Deutschland ein Druck auf den historischen Reset-Knopf: Löschung aller Daten im politischen Arbeitsspeicher, während die relevanten Festplatten oder Akten über den Atlantik verschifft wurden. Darunter auch und vor allem das, was die Elite deutscher Ingenieure in den Jahren zuvor auf der Ostseeinsel Usedom zur Serienreife entwickelt hatte: das A(ggregat) 4, oder, politisch gesprochen, die V(ergeltungswaffe) 2. Was in Peenemünde unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und damit ohne jede Öffentlichkeit stattfand, ist im Lauf des Kalten Krieges zur Allegorie einer neuen Zeitlichkeit geworden: das Herunterzählen der Stunden, Minuten und Sekunden vor dem Start bis zum Zeitpunkt X (= 0) des Take-off, mit dem eine neue, eng begrenzte Zeitrechnung beginnt. Schon seit längerem übte das Fernsehen in den Tagen vor Silvester seine Zuschauer darin ein, die Operation des Annullierens auch historisch zu betreiben. Im Schnelldurchlauf zogen die letzten zwölf Monate noch einmal vorbei, bevor man – nach dem Take-off ins neue Jahr – von vorn zu zählen hat. In Erwartung des Millenniums hat das Berliner Inforadio den alljährlichen Countdown sogar auf das gesamte Jahrhundert ausgedehnt. An jedem Morgen des zu Ende gehenden Jahres rief das aktuelle Datum einen seiner 99 Vorläufer aus den Archiven hervor; mit einer Beliebigkeit, die unverkennbar eine Übung in historischer Indifferenz war. Gut zu wissen, dass alles gespeichert und abrufbar ist. Von der Emsigkeit beeindruckt, mit der Geschichte zu Rückblicken verarbeitet wird, vermutete Baudrillard in dem erwähnten Essay von vor zehn Jahren: „Wir haben es anscheinend eilig, vor dem Ende des Jahrhunderts dort anzukommen, in der geheimen Hoffnung vielleicht, mit einem neuen Jahrtausend bei Null wieder anfangen zu können. Aber vor welchem Zeitpunkt?“ Wer eine Null an Anfang und Ende setzt, hat den Maßstab einer Geschichtszeit verändert, hat ihn zerlegt in gleichförmige Einheiten, etwa die Einheit einer Generation. Das sind statistische dreißig Jahre zwischen zwei Nullzuständen. Cornelia VismannHans-Christian von Hermann
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