Aus dem Zeichendschungel

Jean Baudrillard war bei Abbildern stets misstrauisch. In „Photographies“, seinem jetzt auf Deutsch vorliegenden Bildband, zeigt er schöne Oberflächen ■ Von Magdalena Kröner

„Die Fotografie ist unser Exorzismus“, schreibt Jean Baudrillard. Die Welt im Foto abbilden zu wollen, bedeute, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, schließlich zeige sich die Welt nicht, wie sie ist, sondern sie verschwinde vielmehr im gefrorenen Moment des stillen Bildes, das einzig den Bruch mit dem Realen zeige. Statt Re-Inkarnation der Welt im Bild kommt es zu ihrer „De-Inkarnation“. So spricht der Philosoph und Zeichentheoretiker.

Eine Ausstellung in Graz zeigte im vergangenen Jahr eine Auswahl von Farbfotografien Baudrillards. Warum bloß fotografiert dieser Mann, mag man sich fragen. Immerhin ist das Credo des bärbeißigen Denkers der französischen Postmoderne, der wie kein anderer die postmoderne Theoriebildung und ihre ästhetischen Ausformungen bis in die Gegenwart hinein beeinflusste, die universelle Implosion: die Kunst, die Wahrheit, das Subjekt, das Soziale, das Reale, die Geschichte – alles verschwindet im rasenden Strudel der Simulationen. Es kann dem Philosophen, Soziologen und Medienkritiker also kaum darum gehen, schöne Fotos zu machen, auch wenn die meisten seiner Bilder, die nun in einem umfangreichen Katalogbuch versammelt sind, auf Reisen entstanden. Die Reihe farbsatter Bilder, die am Betrachter vorüberzieht, hat im Wesentlichen ein Thema: Wände.

Europa, die USA, Kanada finden sich nicht in den Gesichtern der Menschen wieder, nicht in Panoramen, nicht in dem, was gemeinhin als typisch gilt, als pittoresk und demnach geeignet für ein Abbild. Das tiefe Misstrauen Baudrillards gegenüber jeder Zeichengewalt, der längst vollzogene Abschied vom Glauben an die definitorische Macht des Signifikanten reduziert sich in der bildnerischen Darstellung, die von überraschend malerischer Qualität ist, auf die äußere Erscheinung der Dinge, sonst nichts. Im Zeitalter des Transpolitischen, Transästhetischen, in dem die Sinn stiftende Kraft des erkennenden Subjekts längst zur Farce geworden ist, kann Baudrillard gar nichts anderes zeigen.

„Die Menschen sind zu sentimental“, schreibt er in seinen aphoristischen Bemerkungen zur Fotografie, die ebenfalls zum ersten Mal im vorliegenden Buch veröffentlicht sind. Einzig das Objekt sei noch Träger auratischer Macht, womit er zurück zu Benjamin führt. Da überlagern immer neue Schichten von Farbe die Wände, bevölkern gemalte Schemen, Schatten und Spiegelungen ganze Straßenzüge. Manchmal bricht eine Wand auf, um eine weitere Schicht von Farbe, von Symbolen freizugeben. Zuweilen entstehen dadurch hübsche Effekte: ein schillerndes blaues Tuch, das eigentlich nur eine Abdeckplane ist; ein Strand, auf eine Häuserwand gemalt. Die Fotos scheinen die visuelle Essenz dessen zu bilden, was Baudrillard 1978 in seinem Essay „Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen“ bereits formuliert hat: Dort brechen Graffiti „als leere Signifikanten ein in die Sphäre der erfüllten Zeichen der Stadt, die sie durch ihre bloße Präsenz auflösen“.

Die Stadt als Zeichendschungel will vom Philosophen nicht enträtselt werden, vielmehr nimmt er vermittels des Objektivs am verführerischen Spiel der Oberflächen teil. Es ist, als stelle die Fotografie für Baudrillard einen originären Ausweg aus dem Terror der Hyperrealität dar, die er immer wieder mit dialektischer Schärfe beschrieben hat. Stets proklamierte er die Suche nach „dem absolut Anderen“, den Exotismus. Immer wieder wurde er fündig auf der Suche nach „extremen Phänomenen“: Wenn schon keine Wahrheit mehr möglich ist, dann, bitteschön, widmen wir uns ohne falsche Scham der Faszination des Künstlichen.

Baudrillard stürzte sich auf die Dinge im Zwischenraum, die sich dem definitorischen Zugriff des Systems entziehen. In seinem 1976 erschienenen Hauptwerk „Der symbolische Tausch und der Tod“ schlug er etwa die Wiedereinführung des aus der Gesellschaft verbannten Todes als symbolische Kategorie vor. 1980 dachte er in „Von der Verführung“ über die Spielarten der Verführung als Spiel mit Künstlichkeit und Reversibilität nach, um die Fixierung auf das Subjekt kreativ und spielerisch zu durchbrechen. Den Kollegen Lacan, der einige Jahre zuvor das Sich-Spiegeln als Quelle der Individualität und Selbstgewissheit erkannt haben wollte, verfrühstückte Baudrillard nebenbei: „Jede Spiegeltheorie ist ärmlich.“ Ihm ging es vielmehr „um den Spiegel als Abwesenheit von Tiefe, als Oberflächenabgrund“. Nur dass er diesmal statt mäandernder Textschleifen die direkte Annäherung an das Objekt selbst sucht.

So wird ihm das Fotografieren zum Abenteuer, was allerdings zu einer recht konventionellen Bildsprache führt. Baudrillard als Fotograf ist keine Entdeckung. Die malerischen Motive lassen wenig Dramatik durchscheinen. Das haben andere vor ihm realisiert, man denke nur an die Oberflächenstudien Stephen Shores aus den 70er-Jahren.

Die Fotos markieren also nicht den Eintritt Baudrillards in den Olymp der Hochkultur, was ihm auch nicht entspräche. Eher schon das allmähliche Verfassen der Gedanken beim Fotografieren. Seinem zweifellos originellen, von der Lust am Widerspruch geprägten Gesamtwerk fügen die Fotografien eine spielerische Note hinzu. Auch wenn er sagt: „Das fotografische Bild ist dramatisch durch den Kampf des Subjekts, eine Ordnung, eine Sicht durchzusetzen, und dem Willen des Objekts, sich in seiner Diskontinuität und seiner Augenblicklichkeit durchzusetzen.“

Jean Baudrillard: „Photographies 1985–1998“. Verlag Hatje/Cantz 1999, 224 Seiten, 78 DM