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Kaffeerunden ohne Zeit zum Kaffeetrinken

Vor 10 Jahren wurde aus der Erfurter SED-Tageszeitung, die dem Volk auf der Straße den Namen entlehnt hatte, plötzlich die „Thüringer Allgemeine“. Ein Zeitzeugenreport zur Zeitungswende in der DDR ■ Von Roy P. Spring

Im Westen nichts Neues? Diese Feststellung vermochte einen Journalisten Anfang Januar 1990 nicht wirklich zu beunruhigen. Immerhin hatte vor ein paar Wochen der Fall der deutsch-deutschen Mauer ganz neue Perspektiven eröffnet. Warum also nicht in die DDR reisen und bei einer SED-Parteizeitung hineinschauen? Meine Wahl fiel auf das Volk in Erfurt, die Tageszeitung, die dem Volk auf der Straße den Namen entlehnt hatte. „Kommen Sie ruhig vorbei“, sagte ohne Zögern der stellvertretende Chefredakteur Hartmut Peters am Telefon.

Wie ein monolithischer Block stand das Zeitungshochhaus am Juri-Gagarin-Ring. Doch im Innern des Gebäudes schien die Absturzgefahr allgegenwärtig. „Fahrkorb nie rückwärts und nur bei heller Beleuchtung betreten“, warnte eine Tafel. „Unser Chefredakteur wäre kürzlich beinahe in den Schacht gestürzt“, raunte mir ein Journalist zu. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand ahnen, wie rasch dieses Omen eine ganz besondere Bedeutung bekommen würde.

Wie jeden Donnerstag wurde in Erfurt auch am 5. Januar demonstriert. Als die Menge beim Volk vorbeizog, erblickte ein Demonstrant einen Redakteur am Fenster. „Wir sind das Volk!“, schrien darauf Tausende, „schreibt die Wahrheit, schreibt die Wahrheit!“

Wendehälse erinnerten sich ihrer „ketzerischen“ Texte

Es sei gar nicht so einfach, plötzlich die Wahrheit zu schreiben, gab die 34-jährige Journalistin Esther Rethfeldt zu Bedenken. „Wir haben zu lange mit der Schere im Kopf gelebt.“ Unter den Journalisten habe eine Art übersteigertes Solidaritätsgefühl geherrscht. „Es ging so weit, dass man seinem Vorgesetzten einen heiklen Artikel nicht vorlegte, weil man ihn nicht in die Verlegenheit bringen wollte, diesen ablehnen zu müssen.“

Einen ganzen Nachmittag opferte Chef-Stellvertreter Peters, um mir seine journalistische Unschuld glaubhaft zu machen. In seinem Büchergestell stand die „goldene Feder“ des DDR-Journalistenverbandes, sein Telefon hatte er kürzlich nach einer Abhörvorrichtung untersuchen lassen. „Ich bin kein Wendehals“, versicherte er immer wieder und kramte verstaubte Manuskripte aus der Schublade. So habe er schon im Mai 1988 in einem unveröffentlichten Kommentar geschrieben: „Mir passen die Unbequemen, wir brauchen sie als Hefe des gesellschaftlichen Fortschritts überall in unserem Lande.“ Das sei „unglaublich ketzerisch“ gewesen, sagte der damals 55-Jährige, „mit dieser Denkweise war ich anderthalb Jahre zu früh.“

Allmählich wurde der Redaktion der Ernst der Lage bewusst: Welche Zukunft hätte das Volk nach einer Enteigung der SED? Schließlich kann sich eine gewöhnliche Partei diesen gewaltigen Medienapparat auf Dauer nicht leisten.

Dennoch waren die Ansichten gespalten. Während Hartmut Peters die Zeitung weiterhin als parteipolitisches Sprachrohr sah, wollten sich vor allem die Jüngeren der journalistischen Herausforderung stellen.

Zum wichtigsten Ort im Hochhaus mauserte sich in diesen Tagen ein kleines Tischchen in der redaktionseigenen Kaffeestube. Um dieses scharte sich mehrmals täglich eine Gruppe besorgter Journalisten. In dieser verschworenen Runde galten eigene Spielregeln. Jede Diskussion verstummte just in dem Moment, als sich jemand Unerwünschtes hinsetzte. Viel Zeit blieb nicht zum gemütlichen Kaffeetrinken.

„Die erste unabhängige Zeitung am Kiosk bricht uns das Genick“, warnte Redakteur Sergej Lochthofen (36). Wolfgang Lindenlaub (43), Leiter Innenpolitik, sprach sich für radikale Schritte aus: „Wir müssen die Chefredaktion stürzen, bevor uns die Partei den Hahn abdreht“, sagte er mit heiserer Stimme. Und Antje Lochthofen (35) forderte einen „Kampf mit offenem Visier“ – doch alle wussten, dass die Situation ihre Opfer fordern würde.

Am meisten machte den Aufmüpfigen der unvermeidliche Bruch mit Chefredakteur Werner Herrmann zu schaffen. Herrmann, seit 1961 beim Volk, wurde von allen respektiert. Noch im letzten Oktober, als er bereits seinen Rücktritt angeboten hatte, stand die Redaktion geschlossen hinter ihm. Ein gemeinsamer Feind, der linientreue SED-Bezirksleiter Gerhard Müller, schweißte damals die Mannschaft zusammen.

Am Mittwoch überstürzten sich die Ereignisse. Während sich der Chefredakteur in Berlin mit der Parteispitze über die Zukunft der SED-Medien besprach, bot sich die einmalige Gelegenheit zum Putsch. Bis fünf vor zwölf dauerte die Krisensitzung. Außer Hartmut Peters befürworteten alle die Absetzung der Chefredaktion. Die Redaktion wartete noch die Rückkehr von Werner Herrmann ab, um ihm am Abend die Möglichkeit zum freiwilligen Rücktritt zu geben. Doch dieser weigerte sich und verhinderte den Abdruck einer geplanten „Unabhängigkeitserklärung“ in der aktuellen Ausgabe.

Doch den Verlauf der Dinge befahl nicht mehr der Chef

Bei der Redaktionskonferenz am 12. Januar legten fast alle Ressortleiter ihre Ämter nieder und verließen schweigend den Raum. „Auch Morgen erscheinen wir als Parteiorgan“, trotzte Herrmann vor gelichteten Reihen, „ich bin bereit, bis zuletzt Zeitung zu machen, auch wenn ich sie allein mit Agenturmeldungen füllen muss.“

Den weiteren Verlauf der Dinge bestimmte allerdings nicht mehr der Chef. Teilnehmer der Kaffeerunde wussten bereits, dass die Oppositionsparteien dem Volk für die heutige Donnerstagsdemonstration eine Schonfrist gewährten und dass sich die Drucker in der kommenden Nacht weigern würden, das alte Impressum abzudrukken – geschweige denn jemals wieder eine SED-Zeitung zu Papier zu bringen.

Am Freitag um halb zehn brachte Werner Herrmann stokkend seine letzten Worte als Chefredakteur über die Lippen. Er habe den Bezirksvorstand dringend ersucht, ihn abzuberufen. Nach der Sitzung folgte ich ihm ins Chefzimmer. „Meine späte Einsicht ist nicht zu entschuldigen“, sagte er unter Tränen, „ich bin der Parteidisziplin gefolgt, wie ich sie gelernt und verstanden habe.“

Am Samstag ging in der Kantine ein perfekt inszeniertes Theater über die Bühne. Regie führte die Kaffeerunde. Wortreich wurde beschworen, dass nur im Alleingang eine Möglichkeit zum Überleben bestehe. Ein Verlagsmitarbeiter rechnete vor, wie man bei einem Zeitungspreis von vierzig Pfennigen einen Auflageschwund um die Hälfte verkraften könne. Im dramaturgisch richtigen Moment versicherte der Druckereidirektor seine Solidarität; nicht unwichtig, reichten doch die Papiervorräte im Keller nur gerade für zwei Tage.

Endlich war die Zeit reif für die Urabstimmung. Mit zwei Gegenstimmen und drei Enthaltungen wandelte sich das Volk zur ersten unabhängigen Zeitung der DDR. Um den Stallgeruch loszuwerden, wurde sie in Thüringer Allgemeine umbenannt, zum Redaktionsrat wurde die „Siebenerbande“ vom Kaffeetisch gewählt; darunter der spätere Chefredakteur Sergej Lochthofen, Nachrichtenredakteur mit sowjetischem Pass und als einziger nie SED-Mitglied.

Noch am gleichen Tag kletterten vier Männer mit einem Transparent auf das Vordach über dem Haupteingang und verhüllten Das Volk mit dem neuen, bis heute erfolgreichen Namen.

Der Schweizer Journalist Roy P. Spring (36)ist Redakteur im Ressort „Leben heute“ der „Weltwoche“ in Zürich

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