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Unwirkliches Leben

Was beim Gedenken des Holocaust oft ausgeblendet bleibt, ist das Schicksal der Emigranten. Wenn, dann wird Männern wie Thomas Mann gedacht. Was ist mit den Emigrantinnen? Mit der Autorin Anja Lundholm, der Wissenschaftlerin Hanna Papanek, der Journalistin Erica Fischer? Von Astrid von Pufendorf

Anja Lundholms Biografie klingt, wie sie selbst einmal gesagt hat, wie eine „Räuberpistole“ und ist „fast schon ein Hintertreppenroman“. 1918 in Düsseldorf als Tochter einer Jüdin und eines autoritären Vaters, einem streng deutsch-national orientierten Apotheker, geboren, geht sie 1933 nach Berlin, um Musik an der staatlichen Hochschule zu studieren. Sie kommt mit der Berliner Musik- und Filmwelt in Berührung und übernimmt kleinere Rollen.

Das sollte sich als ihre Rettung erweisen, denn sie kann trotz Reiseverbots 1941 mit Hilfe Helmut Käutners zur Biennale nach Venedig fahren. Da die Mutter schon seit 1938 nicht mehr lebt, wahrscheinlich in den Selbstmord gedrängt, und der Vater seit 1934 Mitglied der SS ist, hält sie nichts in Deutschland. Sie geht nach Rom und schließt sich einer Widerstandsgruppe an.

Nachdem sie ihren Vater schriftlich um Geld aus dem ihr zustehenden Erbe ihrer Mutter gebeten hatte, kam „drei Tage später die Gestapo und verhaftete mich. Er hat mich angezeigt und dafür gesorgt, dass ich ins KZ kam.“ Ihre sechs Monate alte Tochter muss sie allein in der Wohnung zurücklassen. In Innsbruck, wo sie in einem Zuchthaus zum Tode verurteilt wird, erfährt sie durch Zufall, dass die Tochter von Nachbarn aufgenommen worden ist.

Ein halbes Jahr später wird sie in das KZ Ravensbrück transportiert.

Anja Lundholm beschreibt die Zeit von der Inhaftierung bis Ravensbrück in einem erst spät, 1991, veröffentlichten Bericht „Im Netz“. Ihr Buch über die physischen und psychischen Qualen, die sie im Lager Ravensbrück durchlebt hat, erscheint 1988, 43 Jahre nach ihrer Errettung, unter dem Titel „Das Höllentor. Bericht einer Überlebenden“. Mehr als 92.000 Frauen und Kinder sind in Ravensbrück zu Tode gekommen und ermordet worden.

43 Jahre.

Wie hat Anja Lundholm gelebt, wo hat sie gelebt? In Brüssel, Stockholm und London, für kurze Zeit verheiratet und seit 1953 wieder in Deutschland mit schwedischem Pass. Am Anfang „war ich wie Kaspar Hauser. Ich wusste nicht mehr, wer ich war, was ich war.“ Sie hat viele Jobs, übersetzt und erst in den Sechzigerjahren habe sie „wie eine Wahnsinnige zu schreiben“ begonnen. Vierzehn Romane erscheinen und finden – ins Englische und Schwedische übersetzt – im Ausland viel mehr Anerkennung als hierzulande.

„Sie rückt das erzählende Ich weit weg von ihrem Leben, aus dessen verschlungenen Läufen sie immer wieder schöpft, aber sie vermeidet es, sich selbst allzu nahe zu kommen.“ So beschreibt Eva Demski das sich ganz allmähliche Herantasten Anja Lundholms an den Kern ihrer Erlebnisse, diese müssen „vor ihr gestanden haben wie eine vollkommen senkrechte, schwarze Wand“. Sie wollte „keine Schuldzuweisungen und ohnmächtigen Anklagen, keine Tränen und keine Begründungen“.

Der Vater, der sie denunziert und um ihr rechtmäßiges Erbe betrogen hat, ist „der große Schatten“ in ihrem Leben. Er hat sie in perverser Weise gequält. Anja Lundholm erzählte auf einer Tagung für Exilforschung folgende Geschichte: Eine SS-Aufseherin, die auch aus Düsseldorf stammte, hatte Mitleid mit ihrem jämmerlichen Zustand und wollte, um ihr zu helfen, in ihrem Urlaub Anjas Vater aufsuchen und bei ihm warme Kleidung abholen, was für sie selbst eine große Gefahr bedeutete. Sie schmuggelte einen Koffer mit Kleidung ins Lager. Als Anja den Koffer ihres Vaters öffnete, waren ihre Kinderkleider darin. „Ich habe wirklich unheimlich kämpfen müssen, um nicht in Hass zu verfallen.“

Deshalb hat sie so lange gewartet, 43 Jahre, so lange, bis sie „die Ereignisse und Bilder wieder und wieder in sich verdichtet“ hatte und es schließlich schaffte, „nur noch zu zeigen, was war und wie sich Täter und Opfer so lange anverwandeln, bis sie kaum noch zu unterscheiden sind“. Anja Lundholm hätte allen Grund, verbittert zu sein, aufs Sozialamt angewiesen und gesundheitlich sehr schwer geschädigt, trägt sie allein die Folgen dieser schrecklichen Zeit, aber sie ist freundlich und humorvoll, voller Interesse für andere Menschen und ohne Feindbilder. „Ich will einfach versuchen, diese ewige Spirale zu stoppen“, sagt sie einmal, „das heißt nicht: vergeben und vergessen. Man kann versuchen zu verstehen.“ Und einmal schrieb sie: „Lasst uns alle zusammenhalten und wachsam sein, damit solche schlimmen Dinge in Zukunft nie mehr geschehen können!“

Die Verbindung zwischen der Schriftstellerin Lundholm und der Wissenschaftlerin Papanek besteht darin, dass sie die ihnen „geschehene Geschichte nicht als Autobiografie, sondern als Exemplum für ihre Zeit“ nehmen. Hanna Papanek wurde 1927 als Tochter eines aus dem Baltikum eingewanderten jüdischen Sozialdemokraten in Berlin geboren. Der Vater war politischer Journalist und die aus einer sozialdemokratischen Proletarierfamilie stammende Mutter Sekretärin und Archivarin bei der SPD-Reichstagsfraktion. „Ich bin also“, betont Hanna Papanek „in einem hoch politisierten sozialdemokratischen Milieu aufgewachsen, und nicht in einem jüdischen, da wir alle konfessionslos waren.“

Als Siebenjährige geht sie mit ihrer Mutter – der Vater war schon 1933 illegal über die Grenze geflohen – ins Exil. Der Weg führt wie bei vielen Sozialdemokraten über Prag, Paris, Südfrankreich, die spanische Grenze und Portugal 1940 in die USA.

Sie studiert in Harvard, lebt lange mit ihrem Mann und ihren Kindern in Südostasien und erforscht dort unter anderem die Situation von Frauen im Islam. Sie lehrt Soziologie, Ethnologie und Psychologie in Harvard, Berkeley und Boston.

Nach zahllosen wissenschaftlichen Publikationen zur Exil- und Frauenforschung versucht sie nun im Alter von über siebzig Jahren die wissenschaftlichen Methoden auf ihre eigene Familiengeschichte anzuwenden. Sie begibt sich buchstäblich auf die Reise in die Vergangenheit, findet bei Riga einen Vetter, der noch Dokumente von den gemeinsamen Großeltern hat, findet in Frankreich einen Koffer mit Briefen und Dokumenten von der besten Freundin, die mit ihrer gesamten Familie vom Sammellager Montauban in Südwestfrankreich abtransportiert und ermordet worden ist. Sie recherchiert in Archiven und liest wissenschaftliche Abhandlungen, um ihre persönlichen Forschungsergebnisse zu vergleichen und in Zusammenhänge einordnen zu können. Die Reise ist mühselig und schmerzlich für Hanna Papanek, mosaikartig setzt sie ihr Leben und das ihrer Familie und Freunde zusammen.

Sie nennt ihre Forschungsmethode „participatory history“, „teilnehmende Geschichte“. „Ich gehe ständig von einer Seite zur anderen: Die Quellen regen meine Erinnerungen an oder bestätigen sie.“ Dabei leistet sie genau das, was Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Buch „Namen, die keiner mehr nennt“ beschreibt: „Jetzt aber entdeckte ich plötzlich, dass auch am Alltag, vielleicht gerade dann, Geschichte gemacht wird und dass sich sehr wohl am Schicksal der einzelnen Familie die großen Linien der historischen Strömungen feststellen lassen.“

Die eine ist Schriftstellerin, die andere Wissenschaftlerin, und die dritte, Erica Fischer, sagt: „Meine Ortlosigkeit habe ich zu bewältigen versucht, indem ich Journalistin wurde. Geschützt durch Mikrofon und Schreibblock konnte ich meine Neugier auf das Leben anderer befriedigen, da mir mein eigenes so seltsam unwirklich vorkam.“ Warum so seltsam unwirklich? Erica Fischer wurde 1943 in England geboren, im Exil ihrer Eltern, die Mutter Jüdin aus Warschau, der Vater ein nichtjüdischer Wiener. Schon mit fünf Jahren musste Erica Fischer mit ihren Eltern das als Heimat geliebte England verlassen und nach Wien zurückkehren.

„Der Schock über die plötzliche Sprachlosigkeit in der neuen Umgebung saß tief“, berichtet sie auf einer Tagung für Exilforschung. „Englisch war die Sprache der Guten, deutsch die Sprache der Täter.“ Der zweisprachig aufgewachsene kleinere Bruder weigert sich dagegen bald, Englisch zu sprechen. „Er wollte sein wie alle.“ Sie will es auch, aber es gelingt ihr nicht. Die zurückgekehrten Emigranten wurden in Österreich als „Übel“ bezeichnet. Die Mutter überträgt ihren Hass auf das antisemitische Österreich auf die Tochter, diese leidet unter den Spannungen in der Ehe der Eltern. Die Mutter leidet unter der verpatzten Karriere als Künstlerin und hasst das Hausfrauendasein; der sozialdemokratisch orientierte Vater hat Anpassungsschwierigkeiten. Jüdische Traditionen werden nicht gepflegt, und über die in Treblinka vergasten Großeltern wird nicht gesprochen.

Meine Eltern wollten mich dazu bringen, dazuzugehören“, aber das Gegenteil ist der Fall. Erica Fischer fühlt sich als Outsider, was sie teilweise auch genießt. Ihr „größter Stolz“ ist ihr englischer Pass, und schließlich flieht sie auch „nach antisemitischen Ausfällen an der Universität im Jahre 1965“ nach Cambridge. Doch auch dort fühlt sie sich fremd, vor allem, als sie in orthodoxe jüdische Kreise gerät und merkt, dass sie keine rechte Beziehung zum Judentum hat. Als sie, nach Wien zurückgekehrt, der Mutter Vorwürfe macht, reagiert diese hilflos: „Ich habe mich nie als Jüdin gefühlt, nicht im religiösen Sinn, nicht im Sinn eines nationalen Judentums, weil ich an den Zionismus und den Staat Israel nicht glaube. Wo hätte ich mein Judentum zeigen sollen?“

Bei der Tochter Erica wird es zur Frage nach der eigenen Identität. Wohin gehörte sie? Folgerichtig beschäftigt sie sich als Journalistin mit ausgegrenzten Gruppen: Schwarze in Südafrika, Ausländer in Deutschland ... Erst später erkennt sie, „dass dies alles Versuche waren, mich der Jüdin in mir zu nähern“.

1988 zieht sie in die Bundesrepublik und beschäftigt sich intensiver mit dem Judentum. Obwohl sie auch hier subtilen Formen des Antisemitismus begegnet, fällt es ihr leichter, „fremd zu sein in der Fremde“. „Meine Emigration nach Deutschland hat mir geholfen, mit dem Anderssein selbstbewusster umzugehen“, und „dass ich auch bei den Juden kein Zuhause finden kann, ist eine Einsicht in aller Nüchternheit, die ich Berlin verdanke“. Es bedeutet auch eine Erleichterung, diese Fremdheit, ein bisschen davon, sagt Erica Fischer, „kann keiner und keinem schaden. Sie schafft Distanz und schärft den Blick, auf die anderen ebenso wie auf sich selbst.“

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