: Ein gemachter Mann
Von den Schwierigkeiten des Aufstiegs ■ Von Gabriele Goettle
Während korrupte Politiker auf ihren Schmiergeldern ausgleiten und im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit hinabstürzen ins Nichts – straffrei und mit vollen Bezügen selbstverständlich –, arbeitet sich Peter S. in aller Stille, zäh, verbissen und mit kleiner Barschaft versehen, heraus aus dem Nichts. In relativ kurzer Zeit hat er es vom langjährigen Säufer und Stadtstreicher zum unscheinbaren kleinen Mann gebracht. Er, der zehn Jahre lang ohne Papiere, ohne Geld und Besitz unter freiem Himmel lebte, verfügt nun über Personalausweis, Sozialhilfe und festen Wohnsitz. Wie hat er das geschafft, der ins Lumpenproletariat und Kleinkriminellenmilieu abgesackte Lokomotivführersohn? Mit eiserner Moral. Niemand ist konservativer als ein Lupro. Zwar sind Bildung, Kultur und feine Lebensart bei seiner Erziehung zu kurz gekommen, dafür aber hat man ihm mit Rohrstock, Hosengürtel, Backpfeifen und härteren Sanktionen unauslöschlich eingebläut, was Recht und Ordnung, Sitte und Moral sind. Ausgestattet mit dieser Mitgift, ist Peter all das geworden, was man damit werden kann: Familienvater, schlecht verdienender Kohlenschlepper, Hilfsarbeiter, Arbeitsloser, Knastinsasse, Penner und Säufer. Peter ist in Gewissensfragen radikal. Er findet es unmoralsich, die Laster ins normale alltägliche Leben zu integrieren und somit zu verstecken, lieber integrierte er sein alltägliches Leben in die Laster, das kam ihm ehrlicher vor. Zusammengehalten hat ihn all die Jahre ein harmonisches Zusammenspiel von schweren Gewissensbissen und Selbstbestrafung, dazu eine gewisse kindliche Frömmigkeit, die er auch nie verloren hat. Peter ist so eine Art moderner Hiob, er leidet unerschütterlich.
Ich hätte ihn fast nicht erkannt, so sehr hat er sich verändert. Peter trägt zum dunklen Wintermantel karierte Schiebermütze, karierten Schal, weiße Handschuhe, tadelloses Hemd und Hose sowie geputzte Schuhe. Er geht aufrecht und ist dabei, einen kleinen Specknacken zu entwickeln. Wir haben uns längere Zeit nicht gesehen, und er lädt uns spontan ein, sein Einzelzimmer anzuschauen. Er wohnt immer noch im Obdachlosen-Wohnheim nahe am Mehringdamm, in dem wir ihn im März 1998 schon einmal besucht hatten. Damals wohnte er noch in einem Dreibettzimmer, heute ist er weiter. Wir streben auf den grauen Neubau zu. Unsere Schritte knirschen im frischen Schnee, Peter schüttelt sich und ist verwundert darüber, dass er vor kaum zwei Jahren noch draußen geschlafen hat, bei Eis und Schnee. Zufrieden öffnet er uns die Haustür. Oben im Vorraum stehen ein paar verwildert aussehende Männer und rauchen. Gegen sie nimmt sich Peter inzwischen aus, als sei er der Küster. Schnell strebt er mit uns zu seinem Zimmer, das gleich neben dem Büro liegt. Auf einem Schildchen an der weiß lackierten Tür ist die Größe des Raumes angegeben: 9,01 Quadratmeter. Peter schließt mit seiner weiß behandschuhten Hand bedächtig auf und sagt: „Aber bitte nicht groß umgucken. Wenn ich gewusst hätte, dass Besuch kommt, hätte ich ja besser zusammengeräumt.“ Vor uns liegt ein Raum, der etwa 2,25 Meter tief und vier Meter breit ist. Über die Front der Breitseite ziehen sich Fenster hin und die Zentralheizung. In der Mitte, direkt am Fenster, steht ein kleiner runder Tisch mit Sesselchen, auf dem Tisch ein Teller mit Essensresten. An der linken Schmalseite steht ein ungemachtes Bett, nebst einem mit Medikamenten überladenen Nachtschränkchen, an der Rechten fanden Kühlschrank, kleine Kommode, Regal und ein Kleiderschrank Platz. Peter zieht mit Schwung den nikotingelben Vorhang zurück und zeigt uns die Aussicht, die einerseits auf einen Kinderspielplatz blicken lässt und andererseits auf ein dunkelrotes Backsteinfabrikgebäude. „Im Sommer isses hier oft ein bisschen laut, wenn die Kinder gleich unterm Fenster den ganzen Tag spielen. Aber sonst, alles prima!“, sagt Peter und deutet auf die Fensterbank und ein schmales Regal, „da hab ich meine Vorräte, meine eiserne Ration: Kartoffelpüree, Nudeln, Zucker. Und da unten, die ganzen Konserven, die hab ich mir auch angeschafft. Und hier ...“, er öffnet den Kühlschrank, der brechend voll ist, „alles Vorräte, die kann ich essen, wie und wann ich Lust habe. Du, und übrigens, den Kühlschrank, den hab ich bekommen von einer älteren Dame. Und weißte warum? Die hat über mich in deiner Zeitung gelesen und wollte mal was Gutes tun für mich, hat sie gesagt.“
Peter versucht mir und Elisabeth einen Platz anzubieten, wirft das, was auf dem Sessel liegt aufs Bett, räumt es dann ans Fußende unter die Decke. Am Ende nehme ich auf dem Sessel Platz, Peter auf dem Bett, Elisabeth will nicht sitzen und lehnt an der Tür. „Hier drin habe ich alles, was ich brauche, zum Leben“, erklärt Peter, „mit der Maschine da, kann ich mir Kaffee machen, wenn ich welchen will ... Wollt ihr welchen? Na, dann nicht. Aber jederzeit mach ich einen, das ist klar! Und Stulle wollt ihr ja auch keine? Dann andermal. Also Essen, davon ist genug da, grade gestern hab ich mir wieder bei Aldi Wurst geholt.“ Er steht auf, um die Wurst zu zeigen und sagt: „Ja ja, es geht um die Wurst, immer um die Wurst!“
Dann setzt er sich, springt aber sofort wieder auf und öffnet den Kleiderschrank, in dem überraschende Ordnung herrscht. „Ich habe nur drei Mäntel für den Winter da drinnen hängen, vier gute Sakkos, na, und lacht nicht, ungefähr fünfzig Oberhemden hab ich. Alle mit Streifen, mit so ganz schmalen, genau wie ich’s mag. Die haben sich einfach so angesammelt, im Laufe der Zeit. Hier, hier sind noch welche! Die sind alle sauber. Das machen sie mir hier, die Sachen waschen. Die hängen nu alle auf zwei Bügeln, weil ja kein Platz mehr war. Da ist noch mein Bademantel, Hosen habe ich auch ein paar und jede Menge Socken. Da unten sind die Schuhe, gute Schuhe. Vier Paar! Sogar Krawatten habe ich für die Not. Also, wenn ihr euch hier mal umguckt. Was ihr da seht, das ist alles meins. Außer die Möbel, die waren schon drin. Anfangs war’s leer hier, aber dann kam eins nach dem anderen. Zuerst der Kühlschrank, dann der Fernseher. Der ist auch geschenkt, er ist in Farbe, hat aber keine Fernbedienung. Da muss ich eben immer aufstehen, aus dem Bett, zum Umschalten ... aber das ist ja nur ein Schritt. Manchmal bin ich auch zu faul und guck einfach das blöde Programm weiter an. Oder ich schlafe ein oder ich höre Musik. Alles sonst hab ich mir selbst gekauft, die ganzen Bilder an der Wand, und auch die Uhr, alles von meinem eigenen Geld.“
Stolz zeigt er auf die Wände, an denen teils kleine Drucke von naiven Gemälden hängen, teils jene in Serie gemalten Ölstücke, in grellen Farben. Die Uhr hängt an der Wand zwischen Wappentellern aus verschiedenen deutschen Städten und ist mannshoch, Nachbildung einer Armbanduhr. „Hab ich alles ganz billig bekommen, im Trödel. Anscheinend wollten’s die anderen Leute nicht mehr haben. So was versteh ich ja nicht. Genauso das mit den Kassetten. Ich höre viel Musik und da hol ich mir immer mal welche. So Schlagermusik von früher. Stellt euch mal vor, 300 Kassetten hab ich jetzt. Da ist alles bei, von Elvis, von Roy Black, Freddy, Peter Kraus und Conny, Zarah Leander sogar und noch ältere Sachen, die sind so billig, da kommt mich eine ne Mark, oft noch weniger. Die will auch keiner mehr hören. Ich schon.“
Er deutet auf einen größeren Stapel auf der Fensterbank und einen kleineren vor dem Bett: „Die Kassetten die neu sind, die hab ich hier griffbereit aufgebaut, die andern guck ich ab und zu durch, ob ich auf was Lust habe. Und hier, Radio mit Kassettenrecorder und Lautsprecher, hab ich auch ganz billig bekommen. Alles könnte gut sein, alles, wenn nicht meine Krankheit wäre, die geht einfach nicht weg. Im Gegenteil, immer wenn sie grade am Weggehen war und ich mich gefreut habe, ist sie wieder neu gekommen und ganz schlimm. Am ganzen Körper! Vorletztes Mal, wo ihr mich besucht habt, im Krankenhaus, war ich fünf Wochen drin!“
Als wir ihn damals besuchten, war es Sommer. Er lag in einem Vierbettzimmer und schien ausgesprochen beliebt zu sein bei seinen Mitpatienten, sie nannten ihn Onkel Peter, schenkten ihm Zigaretten und Obst. Neben ihm lag ein junger mongoloider Mann der, glaube ich, Balthasar hieß und ein Leidensgenosse war, während die anderen beiden Patienten lediglich örtlich begrenzte Geschwüre hatten. Peter und sein Leidensgenosse wurden täglich von Kopf bis Fuß gefettet, so, wie Dennis Petters „Singing Detectiv“. Die frisch Gefetteten steckte man in Papieranzüge, damit sie die Wäsche nicht unentwegt besudelten. Damals hielt man die Krankheit Peters für eine besonders heftige Psoriasis. „Das letzte Mal war ich fast sieben Wochen drin“, klagt Peter, „diesmal haben sich die Ärzte darüber gestritten, was es ist. Ich dachte ja immer, es kommt vom Trinken, denn immer wenn ich wieder angefangen habe mit Trinken, ist die Krankheit wieder gekommen. Aber nu ham sie gesagt, es ist was anderes. Sie haben mich immer vorgeführt, vor lauter Studenten, die auch krank werden wollten ... Äh, die auch Arzt werden wollten, meine ich, und die eine Frau, so ne Studentin, die gefragt wurde vom Professor, was es sein könnte, die hat gesagt, wie aus der Pistole geschossen: Milchschorf! Und die war helle, die Frau. Schon als Kind hatte ich Milchschorf. Und jetzt, wo ich keine Milch mehr trinken tu, wird es immer besser. Jeden Tag mach ich mein Fußbad und diese Salbe hier, die streiche ich drauf. Riecht mal, riecht die nicht widerlich? Das ist Teersalbe. Gut isse ja. Jetzt im Moment hab ich die Krankheit nur noch an den Händen und an den Füßen. Deswegen hab ich die vornehmen Handschuhe an, ich schäme mich dafür, aber was soll ich tun?“
Er zieht die Handschuhe aus und zeigt uns seine Hände, dreht und wendet sie. Die Fingerkuppen und Nägel sehen aus, als wären sie kurz davor sich abzulösen. In den Falten der Handinnenflächen habe sich tiefe, schorfige Risse gebildet, die Haut drumherum scheint abblättern zu wollen. Peter ballt mühsam eine Faust: „Na was denkt ihr, wie das immer noch weh tut. Wenn ich nicht vorsichtig bin, reißt alles auf. Das kann sich kein gesunder Mensch vorstellen, wie es ist, wenn man monatelang gar nicht zugreifen kann und alles jeden Tag eingeschmiert werden muss.“ Er öffnet eine Schublade und zeigt uns zwei Bündel schneeweiße Handschuhe: „Für zehn Paar bezahle ich 11,50 Mark. Die sind reine Baumwolle. In der Apotheke, wo ich immer hingehe, verlangen sie für ein Paar 10,85 Mark! Deshalb hole ich mir die immer vorn am Mehringdamm, da wo die U-Bahn ist, bei Berufskleidung. Darauf bin ich ganz von selbst gekommen, durch einen Zufall. Das war mein Glück, denn diese Sachen, die muss ich ja selber zahlen, die übernimmt die Krankenkasse mir nicht. Die andern Sachen alle, die ich hier hab, die Medikamente und Salben, die werden bezahlt. Außer dem hier, das riecht gut, das ist ein medizinisches Ölbad. Ich muss es mir selber kaufen, so ne kleine Flasche, die kostet mich 14,70 Mark und reicht einen Monat lang, wenn ich zweimal pro Woche baden tu, Dienstag und Freitag. Und jeden Tag um halb elfe rum kommt wer, Einschmieren, da, wo ich von alleine nicht hinreiche. Im Krankenhaus, da wurde ich ja überall ... Und die Schwester musste das in die Hand nehmen, ihr wisst schon. Aber da isses jetzt überall weg.“
Peter zieht aus dem Nachttisch eine Kladde, schlägt sie auf und reicht sie mir: „Das ist das schwarze Buch vom Nikolaus ... Sie tragen ihn immer ein, ihren Pflegebericht.“ Da steht unter dem Datum des 17. 6. 99: „Herr S. hat sich zunehmend der Pflege entzogen, war die letzten zwei Tage immer unterwegs, also für das Pflegepersonal nicht erreichbar. Auch hatte er, trotz anderslautender Versprechungen, wieder dem Alkohol zugesprochen!“ Peter kichert verschämt und sagt: „Das sind alte Karamellen. Jetzt trinke ich ja nicht mehr, keinen Tropfen. Die Schwester schrieb weiterhin: „Der Arzt rät zu erneuter Einweisung ins Jüdische Krankenhaus, Herr S. hat aber abgelehnt, dagegen akzeptierte er aber den Vorschlag, sich aus dem Millieu herauszulösen.“ „Hab ich gemacht“, ruft Peter triumphierend aus. Am 24. 12. wurde vermerkt: „Vollbad gemacht, danach sind die Hände besonders schlimm.“ „Ja!“, sagt Peter, das Buch zuklappend, „Heiligabend war’s schrecklich. Die Hände wurden dick und dicker, ich konnte überhaupt nichts mehr anfassen, dabei gab’s doch Geschenke, Kekse, Hühnerbeine ... Das ist mir alles runtergefallen. Allein schon das Rauchen! Das muss ich euch direkt mal vormachen, was das für ein Problem gibt. Also Kerze ist natürlich am leichtesten, weil Feuerzeug geht ja nicht, aber die muss ich auch erst mal ankriegen mit Streichhölzern. Anfangs hab ich den Fehler gemacht und gleich geraucht nach dem Einpinseln meiner Hände. So ne lange Stichflamme kam da aus meinem Handschuh, wie ich die Zigarette anzünden wollte. Das waren die Alkoholdämpfe, die da aufgestiegen sind von der Tinktur. Die ganzen Haare hab ich mir versengt. Aber so was weiß man ja vorher nicht. Das dauert eben ne Weile, bis man zurechtkommt. Aber ich habe ja die ganze Hilfe hier, ohne die wäre ich schlimm dran. Nun bin ich 64. Na, dass ich mal so alt werde, das hätte ich mir nicht gedacht. Sogar die Augen sind noch gut, kann alles lesen ohne Brille. Nur die Hände eben. Was glaubt ihr, wie ich morgens hier auf meinem Bett sitze, bis ich das Hemd zu habe. Bei jedem Knopf tun die Fingerkuppen schmerzen. Die sagen immer, Peter, zieh doch nen Pullover an. Aber das mit den Pullovern ist vorbei, ich geh nur noch im Hemd, mit einem Hemd sieht man erst aus wie ein Mensch. Lieber zerfranse ich mir die Finger, als dass ich nen Pullover anziehen tu. Ja und noch was ist ganz schwer für mich, nämlich Flaschen aufmachen. Also beim Bier, da ging’s ja noch leicht, aber ne Seltersflasche aufmachen, ist ein Problem. Ich kann den kleinen Verschluss nicht aufdrehn. Da habe ich mir was ausgedacht, das muss ich euch direkt zeigen. Ich nehm den Nussknacker, setz den an und drehe, schon ist sie auf. Ich könnte auch ne Rohrzange nehmen, hab ich aber momentan nicht da. Nach und nach kommt’s, nun bin ich schon so lange krank und musste lernen, wie ich alles hinkriege. Anfangs war’s ja ganz schlimm, wie blöd ich war. Ich hab doch ziemlich kleine Hände und die Handschuhe, die ich damals hatte, die waren mindestens zwei Nummern zu groß. Die hab ich so bekommen. Wenn’s nun Mittag gab, ach, da hingen immer die Finger vorne von den Handschuhen in der Suppe drin. Na was sollte ich machen, ich hab sie reinhängen lassen beim Löffeln und hinterher weggeschmissen. Dann hab ich mir selber passende gekauft, und die Sache war gut.“
Peter zupft an seinen Handschuhen herum, betrachtet die Innenseiten und murmelt: „Ein neues Paar könnte auch nicht schaden, morgen nehm ich mir frische. Also ich sage euch, wenn ich so alles frisch anhabe, frische Handschuhe, gebadet, rasiert, Haare geschnitten und ich geh los, ohne Flachmann in der Tasche, nur so, im Kiez herum, dann kriege ich plötzlich so ein Gefühl, ich bin wieder wer, ich bin ein gemachter Mann! Ich hatte sogar mal so ne ältere Frau kennengelernt, ne anständige Frau, mit Wohnung und alles. Die Tochter ist Krankenschwester. Die war ich ein paar Mal besuchen, die Frau, na und wie’s so kommt, ihr wisst schon... sie sagte nur immer: ‚Mach hinne, mein Mann kommt gleich.‘ Das hat mich nervös gemacht. Es war ihr geschiedener Mann. Einmal komm ich grade runter durch’s Treppenhaus, da treffe ich ihn unten an der Tür. Ich mach auf und er kommt rein. Der hat mich keines Blickes gewürdigt. Geht vorbei, als wär ich Luft. Aber sie ist richtig in Ordnung. Weil sie ja seit drei Jahren trocken ist und keinen einzigen Tropfen trinkt, war sie immer ganz streng. Bei ihr durfte ich nichts trinken. Das war alles vor der Krankheit, denn da ging dann ja nichts mehr, mit einmal. Ich hab sie dann ne ganze Weile aus den Augen verloren. Neulich bin ich bei Reichelt, hab ne Tasse Kaffee getrunken dort, da seh ich sie kommen. Aber die läuft einfach an mir vorbei. Ich rufe ihr nach, Heidi, was ist denn los, bist du böse mit mir? Ach du, sagt sie, was haste dir verändert, was siehste erholt aus, nicht wieder zu erkennen. Sie hat recht, ich erkenn mich selbst kaum wieder. Wie ich ihr sage, dass ich aufgehört habe mit dem Trinken, da hat sie Augen gemacht. Das hat sie mir gar nicht zugetraut. Ich musste sie anhauchen, dann hat sie’s geglaubt. Diesmal will ich es durchhalten. Das dort auf dem Regal sind meine Andenken an dieses Laster.“ Er zeigt auf ein Regal über dem Fernsehgerät, das überladen ist mit einer Sammlung kleiner Schnaps- und Likörfläschchen. „Alles echter Schnaps!“, versichert Peter und reicht uns zwei Fläschchen. „Lacrima Christi! steht auf dem einen, „Papas letzte Reserve“ auf dem anderen. „Aber dieser Schnaps der wird nicht gesoffen, der ist nur fürs Auge, wenn ich im Bett liege und den angucke und bleibe ganz ruhig dabei. Man muss ja auch mal an sich denken, was?! Ich tu nur noch rauchen, mein vorletztes Laster. Westpoint. Die Packung kommt mich nur 2,50 Mark. Da hol ich mir gleich immer ne Stange für 25 Mark, denn da gibt’s noch ein Feuerzeug gratis zu. Sonst brauche ich ja kaum Geld. Das Zimmer, das kostet 68 Mark pro Tag, da ist alles drin, Licht, Heizung, Bettwäsche und Handtücher frisch einmal die Woche, das Baden, die Wäsche. Das bezahlt alles das Amt. Ich kriege ja Geld vom Sozi, 497 Mark im Monat, nach den Abzügen, Rente krieg ich nu noch nicht. Ich bin richtig sparsam, muss ich sagen, auch schon ein bisschen geizig. Aber nachdem die mich ein paar Mal angeschnorrt haben und nie was zurückgeben, leih ich nichts mehr her. Das Geld für den Schnaps hab ich ja nun auch für mich. Neulich hab ich mir mein ganzes Gespartes aus dem Büro geben lassen. Besser ist besser, so habe ich den Überblick, und es kommt nichts weg. Die eine Frau hier, so ne nette, die will mit mir auf die Post gehen, ein Postsparkonto eröffnen, denn alleine weiß ich ja nicht Bescheid, wie so was geht, Konto hab ich auch keins. Aber solche Sachen braucht der Mensch.“
Peter zieht unter dem Kopfkissen eine altmodische schwarze Geldbörse aus Leder hervor, wiegt sie in der Hand, öffnet sie, holt ein Bündelchen Scheine hervor, streicht sie glatt und zählt durch: „Sechshundertfünfzig, siebenhundert ... Das sind achthundert Mark, und ein paar Zerquetschte waren’s noch, von denen hab ich mir Kassetten gekauft. Und zwei kleine Bilder, da ist alles aus Stroh zusammengeklebt, aber es sieht aus, wie gemalt. Die sollen noch hier an die Wand. Aber sonst geb ich nur wenig Geld aus. Mittagessen tu ich jetzt nicht mehr so oft hier wie früher. Nee, schlecht isses nicht, es kostet zwei Mark. Aber man will ja nicht immer von unterwegs wieder aufbrechen und zurückfahren. Manchmal bin ich da, manchmal nicht. Wenn ich nach einse komme, ist meistens schon alles aufgegessen. Früher hab ich mir das Essen für den ganzen Monat gleich mit abziehen lassen, aber da hab ich ja jedesmal, wenn ich nicht da war, umsonst gezahlt gehabt. Das Geld ist dann futsch. Das hatte mir dann leid getan, drum mach ich es jetzt so nach Lust und Laune.“
Peter schiebt das Geldbündelchen liebevoll mit seiner weiß behandschuhten Rechten ins Portemonnaie hinein und legt den Schatz zurück unter sein Kopfkissen. „So reich war ich seit Ewigkeiten nicht mehr. Ich kann mir was leisten, wie jeder andere auch. Nachmittags, da geh ich immer spazieren, ich muss viel gehen, trotzdem mir die Füße schmerzen tun. Gestern zum Beispiel, da bin ich mit der U-Bahn zum Kindl-Boulevard hin, das ist Herrmannstraße, wo die Kindl-Brauerei ist, da riecht’s immer so gut. Dort hab ich Kaffee getrunken, das Kännchen kam 4,50 Mark. Gut, ist ganz schön teuer, aber ich spar mir ja die Molle und den Flachmann ein! Also wenn ich nu manchmal so durch den Schnee stapfen tu, und ich erinnere mich dran, wie ich vorher gelebt habe, nee! Wie ich im Winter, bei Eis und Schnee unter meinem Bauwagen gelegen habe, nur mit Matratze und Schlafsack und nebenher sind die Autos vorbeigefahren. Da ham mir ja die Leute, von dem Haus da, nachts Tee gebracht, auch mal fünf Piepen. Der Mann vom Hochparterre hat mir manchmal was zu Essen gebracht, was Warmes, und dann die Krankenschwester da, die mir ne Wärmflasche gebracht hat. Die besuch ich manchmal noch, die Leute, bring nen Kuchen mit zum Kaffee. Und wie ich im Jahn-Park geschlafen hab in blauen Müllsäcken, in meinem Gebüsch, wo dann nachts immer die Hundchen gekommen sind. Sie haben meine Tüten aufgebissen und meine Stullen gefressen, da konnte ich morgens durch die Finger schauen. Aber die hatten ja Hunger, die armen Tiere. Ich hab Hunde gern. Aber nicht alle! Also die Kampfhunde da, denen traue ich nicht über den Weg. Ich wach mal morgens auf, im Jahnpark, in meinen blauen Säcken und da hatte ich immer die Aussicht auf so einen schönen alten Baum. Der ist ganz groß, aber die Zweige reichen runter, bis ungefähr Kopfhöhe. Ich guck da hin und seh was hängen am Baum, das zappelt hin und her. Daneben steht einer und schaukelt da rum an dem Ding und nun seh ich erst, das war ein Hund, was da hing. Ein Pitbull, den hat der da raufgehoben anscheinend, dass der sich festbeißt und hängenbleibt. So richten sie die armen Tiere ab, dass der Kiefer kräftig wird und der Hass. Mich konnte man zum Glück nicht sehen, ich hab mich seitlich durch die Büsche geschlagen und bin in die U-Bahn runter, um mich zu trocknen, denn es hat geregnet. Da kam gleich so einer von der Aufsicht, quatscht mich blöd an, ich soll verschwinden, wenn ich kein Fahrgast bin, sonst holt er den Funkwagen. Mann, ich hab was mitgemacht, wenn ich das so bedenke. Dass ich überhaupt noch leben tu, das ist ein Winder. Hier, da hab ich ja noch ein Bild von mir aus der Zeit, das hat der Pfarrer Ritzkowsky gemacht, unser Achim, dem ich ne Menge verdanken tu. Der kam mal nachts vorbei und hat das Bild geknipst.“
Peter reicht uns das Foto. Es zeigt einen verwildert aussehenden, bärtigen alten Mann mit aufgedunsenem Gesicht, er liegt auf dem Boden in einem Geschäftseingang und zeigt mit dem Finger auf seine Lagerstätte. Der Schlafsack reflecktiert mit raffinierten Glanzlichtern die kurze Helligkeit des Blitzlichtes. „Das war ich“, sagt Peter, „an einem Hintereingang von so nem Laden. Es war da, wo der Blinde gewohnt hat, zwei Häuser weiter nur, da konnte ich schnell mal zu ihm. Aber schlafen lassen hat er mich nicht bei sich! Er hat immer gesagt, laut Mietvertrag darf ich keine Untermieter aufnehmen, also komm morgen, wenn’s hell ist, ich will keinen Ärger. So war das“, sagt Peter und versinkt in Nachdenken.
Dann ruft er plötzlich aus: „Und dabei habe ich ihn zuletzt vor der Obdachlosigkeit gerettet. Das wisst ihr nämlich noch gar nicht, der wohnt nun auch hier, der Blinde, der schiefe Hund. Schon seit ner ganzen Weile. Das kam alles so: Ich bin mal vorbei beim Blinden, klingel, Ernste macht die Türe auf. Nach ner ganzen Weile erst. Mann, sag ich, was ist denn das für eine Rauchwolke hier, brennt bei dir was? Nö, sagt olle Ernste und tappert vor mir her. Ich sofort in die Küche gegangen, da war vielleicht ein Gestank, Mann! Ich mach erst mal das Fenster auf und wedel mit nem Handtuch. Der Blinde steht in der Tür rum und guckt dumm, der packt nicht mal mit zu, nee. Da hatte er ein Huhn gekocht und es vergessen. Ich guck in den Topf rein, alles Presskohle! Der ganze Topf schwarz. Den konnte man nun wegschmeißen samt Inhalt. ‚Ach!‘, sagt olle Ernste und grinst, sonst sagte er nichts. So was hat dem gar nichts ausgemacht, daran hat er sich nicht weiter gestört, überhaupt war’s immer ganz schön durcheinander bei ihm, deswegen wollt ich da auch nicht unbedingt baden, wenn’s nicht sein musste, nachher sagt er noch, der Dreck ist von mir. Ich hab immer gesagt: ‚Ernst, deine Bettwäsche muss mal wieder geteert werden, das Weiße kommt durch.‘ Und er immer: ‚Ich seh den Dreck nicht, ich bin blind, siehste nicht meine Blindenbinde hier, meinste, die hab ich fürs Schapstrinken gekriegt?!‘ Andere Sachen konnte er gut erkennen, wenn mal ne Mark auf der Straße lag, da hatte er Augen wie ein Luchs, die konnte er schon von weitem sehen. Da meinte er dann zu mir, es kam, weil die so geglitzert hat in der Sonne. Andermal hab ich ihn wieder besucht, mir war’s kalt. Ich klingel und sag: ‚Ernst, mach auf, ich kann gar nich so viel zittern, wie ich frieren tu!!‘ Endlich, nach ner Weile geht die Tür auf, wieder dasselbe! In der Küche alles voller Rauch, alles verkohlt, das ganze Fleisch. Ich frag: ‚Nu sag mal, Ernst, wie lange kochst du denn normal dein Huhn?‘ und er sagt: ‚Na so nach Schnauze.‘ Der hat doch keine Ahnung, der olle Dussel. Nee, lacht nicht, es geht ja noch weiter. Das nächste mal geh ich vorbei, denke, guckste du mal nach dem Blinden. Ernst macht auf, und es riecht nach Rauch. Ernst, sag ich, nich schon wieder, hier brennt doch was! ‚Nee‘, sagt er, ‚ich hab nichts aufgesetzt.‘ Diesmal war’s ein Kabelbrand. Im nächsten Moment klingelt es. Da hatte ein Mieter den Funkwagen verständigt, und die kamen rein und haben sich das angeguckt, die Brandstelle. Danach wurde die ganze Wohnung fotografiert. Und irgendwie ham sie gesagt, der kann sich ja selbst nicht mehr helfen, der Mann, der ist brandgefährlich. Bald haben sie ihn ins Krankenhaus eingewiesen, in eine geschlossene Abteilung. Die Wohnung ham sie ihm leergeräumt und aufgelöst, er konnte nur so ein paar Sachen mitnehmen. Die Möbel kamen auf den Müll. Den einen Tag, wie ich da vorbei komme, seh ich so Sachen im Container liegen und denk mir noch, die sehen aus, wie olle Ernste seine. Aber der wusste davon gar nichts, er war ja im Krankenhaus. Aber er wollte nur weg dort, nichts wie weg. Hat immer auf eine gute Gelegenheit gewartet und eines Tages, wie wieder mal Besuch kam für die anderen, da isser heimlich rausgeschlichen, mit all seinen Sachen. Nur hat er vergessen, sich seine Schuhe anzuziehen. Zu Hause kam er nu gar nicht mehr rein oder was. Der wohnte da ja nicht mehr, aber das konnte er natürlich nicht wissen, also hat er sich in die Anlage gesetzt. Ich geh nachmittags so meinen Gang, die Herrmannstraße runter und mit einmal sitzt da der Blinde auf ner Bank, mit Hauspuschen an. Seinen Hackenporsche hatte er auch mit bei ... Hackenporsche, den kennt ihr nicht? So sagen wir zum Einkaufswagen, so einer zum Ziehen. Ich sag, nanu, olle Ernste? Was machst du denn da? Ich denke, du bist im Krankenhaus? Der wusste ja, dass ich da langkomme und hat gewartet. ‚Nee‘, sagt er, ‚ganz zufällig sitz ich hier, ich bin da abgehauen, im Krankenhaus, zu Hause komm ich nicht rein, weißt du was?‘ ‚Halt dich fest‘, sage ich, ‚du hast keine Wohnung mehr.‘ Und er sagt nur: ‚Haste mal nen Schluck für’n ollen Blinden? Was mach ich denn nun, wo soll ich denn hin?‘ Ich sag zu ihm, ‚nu trink erst mal einen auf den Schreck, wir werden das Kind schon schaukeln. Dann haben wir uns da zusammen hingesetzt, auf den Mittelstreifen und erst mal einen hinter die Binde gegossen, dann haben wir hin und her überlegt. Der Blinde, der war ja früher auch mal obdachlos, hat sich in der Stadt rumgetrieben, aber der war ganz anders wie ich. Olle Ernste, der schiefe Hund, der hat immer gewusst, wie er an sein Geld kommt, hat im Übernachtungsheim sich angemeldet, manchmal dort geschlafen, so hatte er eine Adresse fürs Amt. Ohne kriegst du ja keinen Pfennig. Mir hat er immer gute Ratschläge gegeben und mit mir zugezankt, weil ich so blöd bin und draußen schlafe, ohne Papiere und alles. Und nu sitzt er selber da, dachte ich und hat kein Dach überm Kopf. Da war er schon über achtzig, der Blinde ich konnte ihn ja so nicht sitzen lassen, in seiner Patsche. Also sag ich zu ihm: ‚Weißte was, Ernst, warte hier auf der Bank, ich geh mal bei uns fragen, ob noch vielleicht ein Bett frei ist, und dann komme ich wieder und sag dir Bescheid. Er wusste ja, dass er sich auf mich verlassen kann. Ich bin dann schnell hierher und hab gleich alles erklärt, dass er dort beim Herrmannplatz auf der Bank sitzt und wartet. Was für ein Glück, dass die Ute noch da war. Sie ist mit hin, hat mit ihm geredet, und wie er ihr alles erklärt hatte, da hat sie ihn gleich aufgenommen. Er konnte sofort mitkommen und die ganzen Sachen da, mit Krankenhaus und Amt und so was, die haben sie ihm hier alle geregelt. Der hatte ein Glück, der Blinde. Aber ich hatte auch so ein Glück, mir haben sie auch geholfen, mit allem. Nun ist er schon eineinhalb Jahre hier, olle Ernste und hat sogar ein Einzelzimmer, das ist dreimal so groß wie meins. Abgebrannt ist, glaub ich, noch nichts. Momentan ist er böse mit mir, weil ich nicht mehr trinken tu. Ich muss richtig aufpassen, dass er mir nicht heimlich Schnaps in meine Colabüchse kippt, das trau ich ihm zu. Soll er doch seinen Appelkorn trinken. Dem macht das nichts mehr aus, der ist zwanzig Jahre älter als ich. Wenn er bis jetzt nicht ins Grab gebissen hat, dann ist es nicht zu seinem Schaden. Aber er muss sich eben damit abfinden, dass ich ein anderer Mensch geworden bin. Ich muss es schließlich auch!“
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