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Die Erben des Konzentrationslagers

Ludwigsfeld 1945: ein Außenlager des KZ Dachau. Ludwigsfeld 1952: Deutschlands größte Siedlung für „Displaced Persons“. Ludwigsfeld heute: ein multikultureller Stadtteil Münchens. Eine Ortsbegehung ■ Von Konrad Lischka

„Manchmal fühle ich mich hier draußen schon wie im Lager, wir sindaußerhalb einfach fremd mit unserem Ludwigsfelder Slang“

Fußballschuhe auf dem Ziegelboden. An der Wand ein Spielplan. Das letzte Heimspiel der Saison ist schon eine Weile her. Trist, diese Umkleide. Aus den Ecken drückt Dunkelheit die niedrigen, engen Räume der Baracke noch mehr zusammen. Schwer vorstellbar, dass hier vor knapp 55 Jahren fast 300 Menschen zusammengepfercht waren – Gefangene des Dachauer KZ-Außenlagers „Allach I“.

Draußen blättert die gelbe Farbe von den Betonwänden. Am Eingang prangt rotweiß das Emblem des TSV Ludwigsfeld. An der Rückseite eine Gedenktafel für die „vielen tausend Häftlinge, die vom 19. März 1943 bis zur Befreiung am 30. April hier für die Rüstungsproduktion arbeiten mussten“. Selbst Fußball spielen, so scheint es, hat in Ludwigsfeld, die Siedlung im Münchner Norden, dort wo die Stadt in Felder und Wiesen übergeht, etwas mit Vergangenheit zu tun.

Jannis Riesz, Schriftführer des TSV, steht am Spielfeld. Er streckt den Arm aus, weist über die weißgeschneiten Wiesen, bis zum Schwarzhölzelwald, der in der Ferne blau schimmert: „Hier stand früher alles voller Baracken.“ Baracken für 22.000 Menschen. Als die Amerikaner das Konzentrationslager 1945 befreiten, lebten noch 9.997 Häftlinge.

Jannis Riesz ist jetzt 52. Ein hageres Gesicht, graue Bartstoppeln, schwarze Daunenjacke. Mit sechs Jahren, 1953, stand er zum ersten Mal hier draußen. Seine Eltern waren Vertriebene aus dem jugoslawischen Apatin. Sie waren nach Kriegsende nach Deutschland geflohen. In Ludwigsfeld trafen sie Freunde aus der Heimat.

Zunächst quartierten die Alliierten Kriegsgefangene und Flüchtlinge in die einstigen Baracken des Konzentrationslagers ein. Dann, ab 1950, wurde es ein Durchgangslager für „Displaced Persons“, Zwangsarbeiter aus dem Osten und deutschstämmige Flüchtlinge, die es als Kriegsgefangene oder Emigranten nach Deutschland verschlagen hatte – die aber in ihre nun kommunistischen Herkunftsländer nicht zurückkonnten oder nicht wollten. Die meisten wanderten aus. In die USA, Brasilien, Kanada.

Nur etwa 230.000 „Hard-Core-DP’s“ blieben in Deutschland zurück.

Hard-Core-DP’s. So nannten die Alliierten Heimatlose, die nicht auswandern durften oder wollten, zu krank, zu alt waren, als so genannte Hilfsfreiwillige in der Wehrmacht oder der Hitler-treuen sowjetischen Wlassow-Armee gedient hatten. Für sie wurden, finanziert mit Geldern des Marshall-Plans, in ganz Deutschland Siedlungen hochgezogen. Die größte 1952 in Ludwigsfeld.

Jannis Riesz stapft über den gefrorenen Schlamm der Feldstraße zurück in den Ort. „Wir sind irgendwie übrig geblieben hier draußen“, sagt er. Übrig geblieben hinter dem Rangierbahnhof Nord, der A 99, zwischen dem MAN-Werksgelände und der Leere der Wiesen. Von der nächsten S-Bahn-Station braucht der einzige Bus eine Viertelstunde hierher.

Alle 40 Minuten fährt er am Samstagmorgen. Er kriecht die Straße hinauf, die Heizung bullert, Salzkrusten bilden sich auf dem Boden, ein weinendes Kind wird auf Russisch getröstet. 22 Nationalitäten und 13 Religionsgemeinschaften sind in Ludwigsfeld zu Hause. Sie feiern in der katholischen Sankt-Johann-Nepomuk und der evangelischen Golgotha-Kirche. Vor der russisch-orthodoxen Erzengel-Michael-Kirche hängt der Gottesdienstplan in kyrillischer Schrift aus, den buddhistischen Tempel in der Rubinstraße hat der tibetische Dalai Lama schon zweimal besucht.

Auf dem Weg vom Fußballplatz zum Laden grüßt Jannis Riesz jeden zweiten. Die letzte Dorfgemeinschaft Münchens. Eine Gemeinschaft – gerade wegen ihrer Unterschiede.

Am Onyxplatz steht vorm Krämerladen Anatol Kiritschenkos ein Dutzend Leute eng beisammen. Es dampft aus ihrer Mitte: ein Kessel Glühwein auf einem Handkarren, daneben Schmalzstullen. Jannis Riesz nimmt einen Becher, spricht vom Fußballverein, der Kälte. Dann geht er nach drinnen. Zwischen Bierkisten, Zeitungsstapeln, Lutschern und Lottoscheinen steht Anatol Kiritschenko, sein breites Grinsen schaut hinterm Vollbart hervor, als er einer alten Dame den guten Rotwein empfiehlt: „Der Merlot macht keinen Kopf, den trinke ich selbst.“

Dann ist Jannis Riesz dran. Zopf und Jeans des Krämers schlabbern, als er für Riesz fünf Schachteln Zigaretten aus der Stange bricht. Am Regal kleben grüne und blaue Zettel mit Namen und Zahlen, 115 Mark steht auf einem. Kiritschenko ist wohl der letzte Krämer Münchens, bei dem man noch anschreiben lassen kann. 1972 hat er den Laden von seinen Eltern übernommen. Die flohen 1945 aus der Ukraine. Der Vater verdiente den Lebensunterhalt mit seinem Gemüsekarren in Ludwigsfeld, später war es dann ein Laden in einem Münchner Vorort.

Jannis Riesz muss weiter. Samstagmorgenbesuch. Er holt seine Frau Gisela zu Hause ab. Klein sind die Zimmer, ein bis drei hatte eine Standardunterkunft 1953. Eine Ecke des Wohnzimmers hängt voller schwarzweißer Fotografien. Eine Frau, die sich an einen stämmigen Mann lehnt. Giselas Riesz’ Vater. Er floh vor den Königstreuen aus Serbien, also zwischen 1941 und 1945 während der Besetzung Serbiens durch die Deutschen, so genau weiß Gisela Riesz das nicht mehr.

Nach Kriegsende arbeitete er bei München für die Amerikanischen Besatzer, lernte hier seine Frau kennen. „Dreimal wollten sie auswandern, in die USA, Brasilien, Kanada. Dreimal bekam meine Mutter ein Kind“, erzählt Gisela Riesz. Also blieben sie und ihre Schwestern – bis heute. Ihr Sohn, Janni, studiert in Amerika Hotelmanagement. Auf der Fensterbank liegen alte Exemplare des USA-Journals. „Man träumt halt“, sagt Gisela Riesz. Sie ist jetzt 52 Jahre.

Wer noch konnte, wanderte in den Sechzigerjahren aus. Wer blieb, bekam neue Nachbarn, Gastarbeiterfamilien, die in den Siebzigerjahren nach Ludwigsfeld kamen. Vor allem aber wurde eine neue Generation groß, die nicht mehr ans Auswandern dachte.

Durch den weißen Wintermorgen stapfen Jannis und Gisela Riesz zum Haus gegenüber, die Thiels besuchen. Zwischen den Häuserreihen liegt eine rechteckige Betonfläche. Kinder versuchen sich mit dem Rad auf dem glatten, festgetretenen Schnee. Jannis Riesz bleibt stehen: „Früher sind wir hier Rollschuh gelaufen, heißt heute immer noch Rollschuhplatte.“ Die Rollschuhplatte ist das Fundament einer abgerissenen KZ-Baracke.

Hans Thiel öffnet den Riesz’ die Wohnungstür. Der Holzboden knarrt auf dem Weg in die Küche. Brot, Wurst und Tee stehen da auf dem Tisch: „Wir frühstücken samstags einige Male“, lacht Hans Thiel. Während seine Frau Anusch den Gästen auftischt, schlägt er im Nebenzimmer seine Festschrift zum vierzigjährigen Jubiläum Ludwigsfelds auf und beginnt zu erzählen. Seine Eltern flohen als Deutschstämmige nach Ende des Krieges aus dem Sudetenland. Nach dem Flüchtlingslager kamen sie in das frisch erbaute Ludwigsfeld.

Hans Thiel, 54, ist einer der drei Hausmeister der Siedlung. Ein kräftiger Mann, einer der zupackt, nicht grübelt. Aber das zu vermeiden fällt wohl schwer, wenn man die Überreste der Vergangenheit jeden Tag vor Augen hat: Das Transformatorenhäuschen vorn, an der Straßenecke, um das bei der Befreiung des KZ-Außenlagers die Menschen strömten. Oder das Holzdach der evangelischen Golgatha-Kirche, für das die Balken der Holzbaracken des Konzentrationslagers Dachau benutzt wurden.

Hausmeister Thiel blättert sich durch die Fotos der Festschrift. Da ist die russische Aristokratin aus Sankt Petersburg, die mit ihm Französisch übte. Da ist der ehemalige polnische KZ-Häftling, der sich irgendwann in den Sechzigerjahren, so genau weiß das Hans Thiel nicht mehr, am Spielplatz erhängte. Da ist Anatol Kiritschenko, ein kleiner Junge noch, der grinsend aus dem Fenster des Krämerladens hängt. Hans Thiel schlägt das Buch zu. „Man wird schon sentimental, denkt man an die erste Generation zurück. Heute sind die Eigenarten verwischt.“ Dann sagt er: „Aber das ist ja auch ganz gut so.“

Hans Thiels Enkelin Tubitha kommt hereingelaufen, zieht den Opa herüber in die Küche. Anusch Thiel, 53, sitzt beim Tee. Eine junge Großmutter. Zierlich, dunkle glatte Haare, grüne Augen. Ihre Familie war eine der ersten, die 1953 in Ludwigsfeld einzog. Ihre Mutter eine jüdischstämmige Deutsche, ihr Vater Armenier, er hatte für die Wehrmacht in Jugoslawien gekämpft. Kennen gelernt haben sie sich in einem amerikanischen Lager in Österreich. 1947 wurde Anusch geboren.

Am 3. Januar 1953 kam die Familie nach Ludwigsfeld – in ihr erstes Zuhause. „Wir kamen an diesem bitterkalten Tag in die Wohnung. Alles roch so frisch. Wir hatten nicht einmal einen Tisch, doch mein Vater nahm mich in den Arm, sagte: ,Hier werde ich sterben.‘ “

Ludwigsfeld – das bedeutete für Anusch Heimat. Eine Heimat ohne Eindeutigkeit. In der Grundschule saßen 23 Kinder mit 13 verschiedenen Nationalitäten. „Wir hielten zusammen“, sagt Anusch Thiel. Vielleicht, weil man keine Eindeutigkeit braucht, wenn es sie für keinen gibt. Vielleicht, sagt sie, weil man einen gemeinsamen Feind hatte – die deutschen Lehrer, für die ihre Schüler „dreckiges Gesindel“ waren. Gesindel. „Manchmal fühle ich mich hier draußen schon wie im Lager, wir sind außerhalb einfach fremd mit unserem Ludwigsfelder Slang“, sagt Anusch Thiel.

Ihre Brüder mussten das auch so empfunden haben. Drei leben in den USA, zwei in Großbritannien.

Die Kinder der Thiels aber, die sind in Ludwigsfeld geblieben. Da fragt Anusch Thiel ihre Enkelin: „Was bist du denn jetzt eigentlich Tubitha?“ Das Kind überlegt laut: „Oma ist Spanierin, Opa Ukrainer, Hansiopa Deutscher und du Armenierin.“ Dann entscheidet sich Tubitha für eine Gegenfrage. „Aber ich bin doch deutsch, oder? Wie alle irgendwie?“ Anusch Thiel sagt nichts. Sie streicht Tubitha über den Kopf und lacht. Stolz.

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