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Jesus auf Hi-8

„Cinéma Vérité: Defining the Moment“ von Peter Wintonick (Forum) dokumentiert ein Kapitel vergessener Filmavantgarde

Filmgeschichte ist voller Ungerechtigkeiten: sei es der von Hollywood auf das Abstellgleis geschobene Montage-Pionier David Wark Griffith, das durch demütigende Geldsuche zur Untätigkeit verdammte Genie Orson Welles, ja, sei es Jean-Luc Godard, der in diesem Jahr 70 Jahre alt wird und dem zur Berlinale wieder keine Hommage gewidmet ist. Epoche machende Leistungen und ihre Urheber geraten in Vergessenheit, die von ihnen ausgehenden Innovationen werden jedoch vom Mainstream gnadenlos aufgesogen und domestiziert. Heute kommt kaum ein Werbespot und erst recht kein Musikclip ohne verwackelte, Authentizität suggerierende Handkamerabilder aus. Private wie öffentliche Sendestationen versuchen zunehmend, die drögen Themen ihrer Magazinbeiträge mit einer hypernervösen Kameraführung aufzupeppen. Niemand fragt, wo dieser Stil eigentlich herkommt und wann er kreiert wurde. Hongkong-Ikonograf Christopher Doyle war es jedenfalls ebenso wenig wie die skandinavischen Dogmatiker oder das Team von „The Blair Witch Project“.

Der Kanadier Peter Wintonick (er war u. a. Koregisseur und Koproduzent von „The Manufacturing Consent“) nimmt die Fäden einer filmischen Bewegung auf, die Mitte der 50er-Jahre das westeuropäische Kino revolutionierte und auch ihn selbst als Filmemacher sichtbar beeinflusst hat. Dass in Frankreich („Cinéma Vérité“), Kanada („Candid Eye“), Großbritannien („Free Cinema“) und den USA („Direct Cinema“) unter verschiedenen Etiketten, aber nahezu zeitgleich die Befreiung des Dokumentarfilms von ästhetischen und inhaltlichen Restriktionen erfolgte, hat, wie alle kulturhistorischen Phänomene, vielschichtige Ursachen. Technische Entwicklungen (kleinere, leichtere und leisere Kameras) und eine überfällige Erneuerung der Filmsprache verbanden sich zu einem gewaltigen Innovationsschub, dessen Nachbeben bis heute anhalten. Filmausschnitte aus Pionierarbeiten wie „We are the Lambeth Boys“ von Karel Reisz (1959) oder „Chronique d’un été“ von Jean Rouch (1961) vermitteln noch immer unglaubliche Energie.

Wintonick hat seine Dokumentation zielsicher mit solchen Filmsplittern bestückt. Interviewpassagen mit den wichtigsten Exponenten der Bewegung ergänzen das Bild. Erstaunlich, mit welch ungebrochener Euphorie die mittlerweile betagten Herren ihre Arbeit fortsetzen. Der 79-jährige, jetzt in der Normandie lebende Richard Leacock fuchtelt mit seiner Hi-8-Kamera und schwärmt davon, gerade einen Film zu drehen, der ausschließlich fürs Internet gedacht ist. Dann aber relativiert er seine eigene Funktion als Filmemacher auf wohltuende Weise: „Selbst wenn es zu Jesu Zeiten schon kleine Kameras gegeben hätte – was hätte das geändert?“ „Cinéma Vérité: Defining the Moment“ ist einer der schönsten Filme über das Filmemachen überhaupt, über seine Hoffnungen, Triumphe und Enttäuschungen. Filmhochschulen sollten ihn zum Pflichtprogramm erklären. Claus Löser„Cinéma Vérité: Defining the Moment“. Regie: Peter Wintonick; Kanada, 105 Min.; heute, 14 Uhr, Delphi; 18.30 Uhr, Cinemaxx 3; 12.2., 17 Uhr, CineStar 8

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