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Ein Stößchen Dunkles für den Junior

Wahre Lokale (7): „Zur alten Post“ in Lütgendortmund

So folgte auf jeden Kindergottesdienst der nicht minder wichtige Dienst des Kindes für den Zusammenhalt der Familie

Meine erste Stammkneipe war die Gastwirtschaft „Zur alten Post“ in Dortmund-Lütgendortmund. Ein stinktypischer Ruhrgebiet-Vorort, der weltgeschichtlich bislang nicht weiter in Erscheinung getreten ist, sieht man mal von der Tatsache ab, dass auf seinen roten Aschenplätzen die hervorragenden Fußballer Friedhelm „Timo“ Konietzka und Jürgen „Charly“ Schütz sich ihre ersten Hautabschürfungen zuzogen.

Die alte Post duckte sich im großen Schatten der evangelischen St.-Bartholmäus-Kirche. Ein protestantischer Graubau, dessen älteste Fundamente im 12. Jahrhundert gelegt wurden und in dem im 20. Jahrhundert sowohl der große Charly Schütz vor Gott getraut als auch der kleine Fritz Eckenga als vollwertiges Mitglied der evangelischen Kirche zugelassen wurden. Letzteres steht in gewissem Zusammenhang mit der Wahl meiner Stammkneipe. Eine Wahl, die allerdings schon lange vor jener Konfirmation getroffen wurde, nämlich im frühen Alter von fünf Jahren. Zu dieser Zeit besuchte ich, angefeuert von „Omma Lene“, dem einzigen religiös veranlagten Mitglied der Sippe, an Sonn- und Feiervormittagen regelmäßig die so genannten Kindergottesdienste in der erwähnten Kirche, während mein Vater sich nebenan in der alten Post zusammen mit Gleichgesinnten dem Kartenspiel „Schafskopf“ hingab. Eine Veranstaltung, die mit dem Begriff „Frühschoppen“ mindestens euphemistisch beschrieben ist. Das Lütgendortmunder Schafskopf-Regelwerk der frühen 60er-Jahre schrieb nämlich die beiläufige Einnahme erheblicher Mengen Pils und „Strubbeliger“ vor. Der Strubbelige – ein in 2-cl-Dosen verabreichter Cocktail aus gleichen Teilen Doppelkorn und dem „Underberg“-verwandten Kräuterbräu „Boonekamp“ – entfacht selbst bei seriös ausgebildeten Trinkern schon nach wenigen Gaben ein intensives Hirnglühen und transferiert sie bei fortgesetzter Kontaminierung in jenen Aggregatzustand, der etwa meinen Vater laut ehrlicher Selbsteinschätzung „Häuser anstecken“ lässt. Um ihn aber genau dieses Stadium der Selbstvergessenheit möglichst nicht erreichen zu lassen, wurde ich mütterlicherseits schon früh in die familiäre Verantwortung genommen: „... und nach der Kirche holtst du den Papa aus der Wirtschaft ab! Um ein Uhr wird gegessen!“

So folgte auf jeden Kindergottesdienst der nicht minder wichtige Dienst des Kindes für den Zusammenhalt der Familie. Papa sollte wenigstens am Sonntagnachmittag nicht nur „uns“ gehören, sondern auch noch einigermaßen „bei sich“ sein. Eine Pflicht, der ich selbstverständlich nachkam, wechselte ich doch, jeweils frisch in Gebote-Kunde unterwiesen, von der Kirche in die Kneipe und ehrte die Eltern durch die artige Befolgung der Mutter Auftrag.

Gern ging ich also in die kühle, klare St. Bartholomäus, aber, begleitet vom ausklingenden Geläut, anschließend nicht minder gern rüber in die alte Post, wo mich sofort eine ganz andersartige Atmosphäre eindringlich gefangen nahm. Lautes Palaver erfüllte den großen, wartesaalähnlichen Gastraum, in dem an Tischen und Tresen ausnahmslos männliche Erwachsene Karten spielten, Würfelbecher umdrehten und würzig-strenge HB-, Overstolz- und Strubbelige-Abluft produzierten.

Im hintersten Winkel, am schweren Stammtisch, saß der Vater in trauter Schafskopfrunde und – wollte nicht zum Mittagessen abgeholt werden. So orderte er bei der unablässig Pils und Schnaps anliefernden Bedienung auch jeweils noch „’n Stößchen Dunkles für den Junior“. Dabei handelte es sich um knapp 0,2 Liter Malzbier, den seinerzeit üblichen Kinderberuhigungs- und Ablenktrunk.

Lecker schmeckte der dem Sohne, und gerne vergaß er über den Genuss des süßen Saftes die mütterliche Weisung, „den Papa spätestens um Viertel vor eins“ zum Aufbruch nach Hause zu bewegen. Dabei sollte der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass dem Kind das Entschlüsseln der korrekten Uhrzeit noch nicht recht geläufig und es dazu auf die Angaben des Erziehungsberechtigten angewiesen war. Entsprechende Nachfragen wurden von dem stets mit „kurz vor eins“ und „wir gehen gleich nach der nächsten Runde“ beschieden. Zaghaft zweifelndes Aufmerken wurde darüber hinaus mit einem Zehnpfennigstück für den Erdnussautomaten neutralisiert: „Guck’ mal hier – hier hast du ’n Groschen, jetzt übst du mal schön ’n Bierdeckel falten und holtst Nüsse, und dann kriegst auch noch ’n Stößchen Dunkles.“

So wurde die alte Post zu meiner ersten Stammkneipe. Ich verbrachte in ihr wahrscheinlich weitaus mehr Zeit als in der Bartholomäus-Kirche. Zwar gehören die Ereignisse der Restsonntage, an denen Vater und Sohn nicht rechtzeitig zum Mittagessen am Tisch der schlecht gelaunten Mutter erschienen, nicht unbedingt zu meinen liebsten Kindheitserinnerungen. Rückblickend mit der gnädigen Unschärfe der Altersweitsicht, gestatte ich mir jedoch zu behaupten, dass die lebensvorbereitende Grundausbildung in einer Gastwirtschaft der in einer Kirche vorzuziehen ist. Fritz Eckenga

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