Bei den Wahlen im Iran haben sich die Reformer durchgesetzt: Machtkampf noch nicht entschieden
Mit deutlicher Mehrheit stimmten die IranerInnen für die Anhänger des reformorientierten Präsidenten Chatami. Dies zeigen die ersten Auszählungen. Nun muss der Präsident beweisen, wie weit er zu gehen bereit ist. Bisher konnte er sich hinter der konservativen Mehrheit im Parlament verschanzen und damit hinter dem unausgesprochenen Argument, dass grundlegende Reformen im real existierenden Gottesstaat nicht möglich seien angesichts der starken Gegner. Damit ist es jetzt vorbei.
Chatami hat zahlreiche Wähler angezogen, die die von Ajatollah Chomeini geschaffene „Islamische Republik“ ablehnen. Allerdings erhoffen sie sich von Chatami weit mehr, als dieser je versprach: eine Republik nach westlichem Verständnis, und zwar eine weltliche, keine islamische. Wenn Chatami diesem Wunsch nicht nachkommt, dann werden Millionen IranerInnen ihn sich wohl selbst erfüllen. Für den Präsidenten bliebe nur das Schicksal eines Michail Gorbatschow: Er könnte bald der letzte Präsident der Islamischen Republik gewesen sein.
Für die islamischen Staaten haben die Ereignisse in Teheran Modellcharakter. Zwar taugte Irans Islamische Revolution nie als Vorbild für die arabische Welt – zu tief ist das Schisma zwischen arabischen Sunniten und iranischen Schiiten – , aber trotzdem ist die Islamische Republik der erste islamistisch regierte Staat der Welt. Durch die Ereignisse können sich jetzt jene Demokraten bestätigt sehen, die keine Angst vor Religionen haben: Sie hatten Recht mit ihrer Forderung, dass man die Islamisten an die Macht lassen solle, statt sie zu unterdrücken. An der Regierung sei ihr Scheitern vorprogrammiert.
Nicht umsonst bleibt in Iran den Islamisten derzeit die Unterstützung aus, während in Tschetschenien weite Teile der Bevölkerung die Ausrufung einer Theokratie wohl begrüßen würden – nicht aus Überzeugung, sondern aus Protest gegen die (christlichen) russischen Besatzer. Auch in der Türkei, in Algerien, Ägypten und Marokko hat sich in den letzten Jahren gezeigt: Im Kampf gegen Unterdrückung besteht die potenzielle Kraft des politischen Islam. Fehlt der Druck von außen, dann bleibt auch die Überzeugungskraft der Religion aus.
Viele Iraner wünschen sich endlich ein Ende der Ära Chomeini, und dieser Abschied von dem alten Mann mit dem grauen Bart könnte mit den zurückliegenden Wahlen endgültig begonnen haben. Trotz gegenteiliger Propaganda lechzt die Bevölkerung in Teheran nach westlichem Einfluss. Sobald dort eine deutsche Theatertruppe auftritt, rennen hunderte zu den Kartenschaltern. Besonders beliebt sind eingeschmuggelte Videokassetten. Kommen US-amerikanische Ringer oder Fußballer in die iranische Hauptstadt, sind die Stadien voll. Niemand interessiert sich dann mehr für an Häuserwände gepinselte Parolen wie: „Tod Amerika!“ Ein Auftritt von Stefan Raab wäre in Teheran der Hit, auch – oder gerade – wenn ihn dort niemand versteht.
Irans Konservative sind angeschlagen – aber sie sind nicht geschlagen. Sie werden alles tun, um ihre Macht zurückzuerhalten. Wozu sie dafür bereit sind, das haben sie 1992 beim Mykonos-Attentat gezeigt, Ende 1998 bei der Ermordung von fünf Dissidenten und im Sommer 1999 bei der Niederschlagung der Studentenproteste. Noch immer sitzen hunderte Chatami-Anhänger in Haft, nur weil sie ihre Forderungen zu lautstark äußerten. Will der Präsident seine Glaubwürdigkeit erhalten, muss er dafür sorgen, dass sie schleunigst auf freien Fuß kommen.
Ermutigend an den Ereignissen der letzten Tage ist, dass sie Irans Bevölkerung entspringen. Die Islamische Republik ist ihren Nachbarn damit voraus. 63 Millionen Menschen haben am vergangenen Freitag trotz stark eingeschränkter Möglichkeiten einen beeindruckenden Beweis der Demokratie geliefert – und dafür, dass Samuel Huntingtons These vom „clash of civilizations“ blanker Unsinn ist. Als in der vergangenen Woche ein Kandidat des Reformlagers in Teheran bei seiner Wahlkampfveranstaltung skandierte: „Islam und Freiheit!“, schallte nur zurück: „Freiheit!“ Das hätte auch in New York, Moskau, Nairobi, Rio oder Peking sein können. Ein Opfer dieser Forderung könnte freilich der iranische Präsident werden. Thomas Dreger
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