: Strafanzeige gegen pathologische Schlamperei
Dutzende von Frauen wurden wegen Brustkrebs operiert – wohl ohne Grund
Berlin (taz) – Ob Hildegard Müller wirklich Krebs hatte, weiß sie nicht. Nur eins ist der 55-jährigen Hausfrau klar: Nichts wird ihr die Brust zurückbringen, die ihr vor viereinhalb Jahren amputiert wurde. „Es zieht mir noch heute den Boden unter den Füßen weg“, sagt die Essenerin. Denn Müller gehört zu einer Gruppe Frauen, denen möglicherweise gesunde Brüste entfernt wurden – wegen falscher Diagnosen.
Müller und 61 andere Frauen der Essener Interessengruppe „Diagnose Brustkrebs“ haben Strafanträge gestellt – unter anderem gegen drei Essener Krankenhäuser, einen Radiologen und die Ärztekammer Nordrhein, Düsseldorf. Der Vorwurf: Die beteiligten Fachärzte hätten ihre Sorgfaltspflicht verletzt.
An der Misere von Müller und ihren Leidensgenossinnen ist jedoch vor allem ein Pathologe schuld, der nicht mehr belangt werden kann. Der Pathologe Professor Josef Kemnitz ist seit zwei Jahren tot. Er nahm sich im Sommer 1997 das Leben, indem er in seinem Labor Feuer legte. Dabei vernichtete er auch Gewebeproben und damit Beweismaterial.
Kemnitz war zuvor mit Berufsverbot belegt worden, nachdem ihm falsche Krebsdiagnostik nachgewiesen werden konnte und in einem Gutachten Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit aufgekommen waren.
Der Pathologe hatte überdurchschnittlich oft in ihm zugesandten Gewebeproben „Mikrokarzinome“ festgestellt. Den betroffenen Patientinnen wurden daraufhin die Brust oder Teile der Brust abgenommen. Nachdem ein Essener Gynäkologe misstrauisch geworden war, ließ er die Gewebeproben seiner Patientinnen nachbegutachten. Es wurde festgestellt, dass von 12 Gewebeproben 9 Proben den betroffenen Frauen nicht zugeordnet werden konnten. Kemnitz hatte sie verwechselt, vielleicht sogar bewusst vertauscht.
Kemnitz hätte nicht so viel Unheil anrichten können, wenn die andere Diagnostik, etwa der einweisenden Radiologen und der operierenden Krankenhäuser, funktioniert hätte, so der neue Vorwurf der „Interessengruppe „Diagnose Brustkrebs“. Die Gruppe ließ von der Deutschen Gesellschaft für Senologie ein Gutachten über die Diagnosekette erstellen, das sich am Ende auf 51 betroffene Frauen konzentrierte. Fazit der Gutachter: Nicht nur Kemnitz erstellte unglaubwürdige Befunde, schon bei der Mammografie zuvor hätten die Radiologen geschlampt. Bei drei Vierteln der Patientinnen konnte der Krebsverdacht auf Grund des Röntgenbildes „nicht nachvollzogen werden“.
Aber nicht nur ein Essener Radiologe und Kemnitz, auch die Krankenhäuser kommen in dem Gutachten schlecht weg: Sie hätten es in 75 Prozent der Fälle versäumt, vor Entnahme der Gewebeproben die entsprechenden Stellen korrekt zu „markieren“. Doch die Krankenhäuser lehnen jede Verantwortung ab, möglicherweise mit schuld zu sein an unnötigen Brustamputationen. „Es ist in keinem Fall ohne Markierung operiert worden“, erklärte Franz Löhr, Geschäftsführer des Essener Sankt-Josef-Krankenhauses, eines der beschuldigten Hospitäler. Man habe sich ansonsten auf die Befunde der Radiologen und des Pathologen – also Kemnitz – verlassen.
Hildegard Müller wirft dem Krankenhaus jedoch vor, ihren Wunsch nach einem Zweitgutachter 1995 abgelehnt zu haben. Chefarzt Dr. R. habe eine entsprechende Bitte abschlägig beschieden.
Aus dem Essener Skandal sollten Konsequenzen gezogen werden, so Klaus-Dieter Schulz, Gynäkologe am Universitätsklinikum Marburg und einer der Gutachter. Schulz fordert eine bessere Ausbildung der Radiologen, die Mammografien machen. Auch sollten Zentren für die Früherkennung gebildet werden und mehrere Pathologen ihre Befunde immer gegenseitig absichern.
Barbara Dribbusch
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen