: Die Krise der Demokratie hat nicht stattgefunden
Politikverdrossenheit werde die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein überschatten, hatten viele befürchtet. Aber die Wähler sind krisenresistenter als gedacht. Eine Analyse
Die Katastrophe der Demokratie – sie hat am letzten Sonntag in Schleswig-Holstein nicht stattgefunden. Weder blieb, angewidert vom Schauspiel der Koffer und Konten, eine nennenswerte Zahl der Wahlberechtigten den Kabinen fern. Die Wahlbeteiligung fiel nur unwesentlich gegenüber 1996. Noch konnten antidemokratische Gruppierungen der äußersten Rechten nennenswerte Erfolge erzielen, obwohl Schleswig-Holsteins Wahlbevölkerung aus bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückreichenden Gründen nicht unempfindlich reagiert gegenüber den Versuchungen des rechten Populismus.
Auch innerhalb des Spektrums der „etablierten“ Parteien hielten sich die Veränderungen in Grenzen. Die CDU wurde nicht exemplarisch abgestraft. Und die Pluspunkte der SPD markierten zwar den Weg aus dem Tal der Tränen, der die Wahlen des vergangenen Herbstes kennzeichnete. Aber sie lassen keine Rückschlüsse zu auf das künftige Wählerverhalten, zum Beispiel an Rhein und Ruhr.
Für empirische Soziologen wie den Wahlforscher Jürgen Falter ist das Wahlergebnis in Schleswig-Holstein ein Grund zur stillen Freude. Er sieht in ihm die Grundlagen demokratischen Verhaltens bestätigt. Nach ihm haben die WählerInnen sich bei ihrer Entscheidung von nichts anderem leiten lassen als von der politischen Vernunft.
Parteien, so Falter, werden heute nicht mehr mit der Elle politischer Tugendhaftigkeit gemessen, so wenig wie Politiker als moralische Vorbilder gelten. Bestechlichkeit und Korruption gelten dem Wahlvolk als zwar üble, aber unvermeidliche Begleiterscheinungen des politischen Prozesses der Demokratie. Sofern sie übersichtlich und der Korrektur fähig bleiben. Was nach Falter offensichtlich mit der „Aufklärungsarbeit“ an den Skandalen gewährleistet ist.
Parteien wie die CDU werden also gewählt oder nicht gewählt, weil man ihren Führern zutraut, Interessen durchzusetzen. Hauptsächlich die je eigenen.
Hinter Falters Thesen verbirgt sich eine altes Problem. Wie wirkt sich die zunehmde Auflösung überkommener Klassenschranken, sozialer, politischer und kultureller Milieus eigentlich aufs Wahlverhalten aus? Dass traditionelle Bindungen nachlassen, ist bekannt.
Es geht um den Gegensatz von „Identität“ zu „rationaler Wahl“. Die Rational-choice-Theorien entstammen dem Feld der Ökonomie. Sich rational verhalten heißt, den Gewinn zu maximieren. Auf andere Felder bezogen würde rationale Wahl beispielsweise bedeuten: den Gewerkschaften dann beitreten, wenn sie stark genug sind, Forderungen durchzusetzen, aber nicht so stark, dass der Beitrittskandidat auch ohne Mitgliedsbeitrag die Früchte des gewerkschaftlichen Kampfs ernten könnte. Ein Punkt auf der Kurve bezeichnet das Optimum.
Für die Behandlung der CDU in Schleswig-Holstein hieße das praktisch, ihr ein blaues Auge zu verpassen. Auch wenn beide Augen betroffen sind (die Partei und Völker Rühe) – die Blessur wird verschwinden. In Tagen, spätestens in Wochen. Unfreiwillig hat das Franz Müntefering erkannt, als er zur Charakterisierung des Wahlergebnisses genau diese Metapher benutzte. Stimmt diese Diagnose? Und wenn ja, ist sie so erfreulich, wie der Wahlforscher Falter meint? Gibt es nicht jenseits des Bereichs, in dem die etwas zynisch gewordene Vernunft waltet, noch politische Sehnsucht und Verlangen? Oder ist nicht beides, Vernunft und Emotionen, untrennbar vermischt?
Wer in den letzten Wochen den Christdemokraten Heiner Geißler oder Norbert Blüm zugehört hat, könnte hierüber ins Grübeln geraten. Die beiden fordern nicht weniger als die einstmals versprochene, aber nie eingelöste „geistig-moralische Wende“ in der CDU, sprich die Rückbesinnung auf die Positionen der christlichen Sozialethik. Damit meinen sie nicht nur einen vorgegebenen Gerechtigkeitsstandard, sondern auch einen Verhaltenskodex. Anhänger niedergehender Lehren, die berühmten Mastodonten, also letzte Exemplare einer längst ausgestorbenen Art?
Oder verbinden sich mit den überkommenen christlich-sozialen Werten ganz zeitgemäße, des religiösen Hintergrunds entkleidete Haltungen? Renate Künast von den Bündnisgrünen forderte am vergangenen Sonntagabend von den CDUlern ein wenig Reue. So seltsam dies aus dem Mund einer mit vielen Wassern gewaschenen Politikerin klingt, hat sie damit nicht eine Saite im Gemüt der CDU-„Basis“ zum Schwingen gebracht?
Es könnte sein, dass dem so vernünftigen Verhalten der Wähler in Schleswig-Holstein ein Schuss Resignation beigemischt ist. Aber nicht nur Wut, auch Resignation kann sich in Energie verwandeln. Es gilt als Stehsatz der Sozialforschung, dass es gegenwärtig in Deutschland kaum Bedürfnisse nach erweiterter demokratischer Mitbestimmung gibt.
Aber die Bejahung des Prinzips der repräsentativen Demokratie sagt noch nichts darüber aus, ob angesichts der Skandale um die Parteienfinanzierung nicht doch der Wunsch nach mehr Teilhabe im politischen Entscheidungsprozess erwacht. So betrachtet steckt selbst in der gegenwärtigen Inszenierung des Basiswillens durch die CDU-Führung ein Moment, das so leicht beherrschbar nicht ist.Christian Semler
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