: Grenzstadt zur Dritten Welt
Nach Angaben der Weltarbeitsorganisation ILO liegt das weltweit größte Armutsgefälle nicht zwischen den USA und Mexiko, sondern 80 Kilometer von Berlin entfernt an der polnischen Grenze
von UWE RADA
Noch immer richten sich die Blicke der meisten Berliner in Richtung Westen. Doch die Zukunft der Hauptstadt liegt im Osten. Mittlerweile nämlich hat die deutsch-polnische Grenze die amerikanisch-mexikanische als weltweit größtes Wohlstandsgefälle abgelöst. Dies ergab eine Studie zum Thema Globalisierung und Migration, die die Weltarbeitsorganisation ILO in Genf vorgestellt hat.
Während der Unterschied im Pro-Kopf-Einkommen zwischen Mexiko und den USA bei eins zu sechs liegt, beträgt er zwischen Polen und Deutschland mittlerweile eins zu elf, schreibt ILO-Autor Peter Stalker in der Studie. Gleichzeitig mit dem Lohngefälle steigen auch die Wanderungsbewegungen, so Stalker. Hauptmotiv der mittlerweile weltweit 120 Millionen Migranten sei schließlich der Wunsch, anderswo Arbeit oder zumindest eine bessere Bezahlung zu finden.
In Berlin, achtzig Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, findet diese Wanderung vor allem als Pendelmigration statt. Allein etwa 100.000 polnische Pendler halten sich mehr oder weniger regelmäßig in Berlin auf, schätzt die Ausländerbeauftragte der Hauptstadt, Barbara John (CDU). Der Grund: Anders als die Bürger der meisten osteuropäischen Staaten können Polen als Touristen visafrei bis zu einer Dauer von drei Monaten in Deutschland einreisen. Ein großer Teil arbeitet in Berlin im Baubereich oder im privaten Dienstleistungsbereich – illegal und ohne rechtliche Absicherung.
Trotz des näher rückenden EU-Beitritts Polens tun sich die Politiker freilich immer noch schwer, die Pendelmigration als alltäglich gewordenen Bestandteil der Berliner Wirtschaft anzusehen. Bei seiner jüngsten Abschiebebilanz rühmte sich Innensenator Eckart Werthebach (CDU) vielmehr, im vergangenen Jahr 676 „illegal aufhältliche“ Polen in ihr Heimatland abgeschoben zu haben. Damit ist die Zahl der Abschiebungen nach Polen deutlich gestiegen. Im Vorjahr gab es nämlich nur 438 Abschiebungen. Eine ähnliche Tendenz gibt es auch in Brandenburg, wo die Zahl der Abschiebungen insgesamt sinkt, die der abgeschobenen Polen aber von 396 im Jahre 1998 auf 452 im vergangenen Jahr gestiegen ist.
Ein Grund für das Ansteigen des Wohlstandsgefälles zwischen Deutschland und Polen liegt unter anderem in der wirtschaftlichen Krise der westpolnischen Oderregion. Obwohl die Attraktivität der grenznahen Woiwodschaften für Investoren gestiegen ist, liegt die Arbeitslosigkeit mit 17 Prozent noch immer vier Prozent höher als im Landesdurchschnitt. Hinzu kommt, so schätzt der polnische Publizist Adam Krzeminski, dass nur etwa ein Drittel der zwei Millionen Bauernhöfe in Polen den EU-Beitritt überleben wird.
In Berlin ist man auf diese Entwicklung freilich noch nicht eingerichtet. Forderungen etwa nach einer rechtlichen und gesundheitlichen Absicherung von Pendlern werden schlicht ignoriert. Dabei profitieren nicht nur die Polen von der Grenzlage, sondern auch Berliner und Brandenburger, die in den Basaren östlich der Oder an den Wochenenden zu Zehntausenden billig einkaufen oder tanken.
Schon vor kurzem hat der an der Frankfurter Universität Viadrina lehrende Geograf Stefan Krätke darauf hingewiesen, dass Berlin eine Ost-West-Drehscheibe vor allem im Bereich der Migration aus Mittel- und Osteuropa sei. Ein anderer Beobachter hat noch deutlichere Worte gefunden. „Viele der neuen Verbindungen nach Osteuropa werden wildwüchsig wuchern“, schreibt der in einem Bundesratsministerium tätige Wirtschaftsreferent Stefan Welzk. Doch dies sei nicht unbedingt von Schaden. Die „Symbiose“ zwischen der Legalökonomie und der „von Immigranten vitalisierten Marginalökonomie“ bildeten als „Berliner Amalgam“ eines der Zukunftspotenziale der Stadt.
Interview Seite 26
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen