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GG scheitert am globalen F

Standort Deutschland (IX): Mit seinen 23.000 Einwohnern ist Groß-Gerau zu klein für Überraschungen. Früher lebte die Stadt von den Opel-Werken, heute ist ein Großteil der Arbeitnehmer auf dem nahe gelegenen Frankfurter Flughafen beschäftigt

■ Leben in der Mittelstadt: Es gibt Städte, die niemand kennt und für die sich niemand begeistern will. Sie heißen Anklam oder Pirmasens. Es sind Städte mit 20.000 bis 120.000 Einwohnern, in denen sich der Alltag ohne Extravaganzen zwischen Eigenheim und Fußgängerzone abspielt. Hier lebt ein Viertel der deutschen Bevölkerung

von THOMAS SAKSCHEWSKI

„Die Höllenfahrt der Poseidon“ hat Kurt Zimmermann ziemlich häufig gesehen. Wie dieser Luxusliner hilflos, kieloben im Meer schwamm und eine kleine Gruppe Überlebender, angeführt von Gene Hackman als Reverend Frank Scott, sich durch den umgedrehten Schiffsbauch – immer vom eindringenden Wasser bedroht – nach oben in den Maschinenraum durchkämpfen musste, das war ein Film, der den Inhaber des Kinos in Groß-Gerau immer wieder gefesselt hat. Warum der Katastrophenfilm, der seit seiner Kinopremiere vor fast zwanzig Jahren wohl an die zwanzigmal im Fernsehen wiederholt wurde, einen so tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen hat, kann Kurt Zimmermann heute allerdings auch nicht mehr sagen. Dabei hat er in all den Jahren schon tausende von Filmen gesehen und vorgeführt.

Das Kino in Gera ist seit 1932 in Familienbesitz. Vater Zimmermann hat den Saal damals übernommen, und als er 1963 starb, hat sein Sohn Kurt das Kino weitergeführt. „Man ist hineingewachsen“, sagt er bescheiden. Zwei Säle hat das Kino heute, denn 1972, in dem Jahr, als „Die Höllenfahrt der Poseidon“ anlief, hat der Kinoinhaber den großen Saal geteilt, das Bambi integriert und aus dem größeren, dem Lichtspielhaus, ein Raucherkino gemacht.

Das ist es bis heute geblieben, entgegen allen Trends. Der Teppich im Foyer des Kinos ist abgetreten und an einigen Stellen schon ganz blank. Im großen Saal können die Zuschauer in gemütlichen weichen Schalensesseln Platz nehmen, die mit ihren braunen Polstern und dem geschwungenen Kunststoffrücken an frühe James-Bond-Filme erinnern. Auf den Tischchen davor stehen Lampen, in deren schummerigem Licht die Blumenmuster an den Wänden noch plastischer wirken.

So modebewusst ist die Bahnhofshalle in Groß-Gerau nicht eingerichtet. Zwei Bänke, ein Mülleimer. Viel mehr steht nicht in diesem düsteren Durchgang zum Bahnhofsvorplatz. Im Backsteinbau eines Industriegebäudes, dem Bahnhof gegenüber, sind nahezu alle Fensterscheiben eingeschlagen. Über den Dächern der verlassenen Fabrik türmen sich dicke graue Rauchwolken auf. Die Südzucker-Raffinerie arbeitet ohne Unterbrechung, denn es ist Kampagne: die Dickworz, wie die Zuckerrübe im Hessischen heißt, muss vom Acker geholt werden. Die unförmigen fleischigen Rüben gedeihen prächtig in den schweren Schwemmböden des Rheins. Hier im Tiefland des oberrheinischen Grabens liegt Groß-Gerau. Im Norden fließt der Main in den Rhein und fließen die Städte ineinander. Frankfurt wächst über den Flughafen hinaus in den Süden und im Westen am Main entlang bis nach Offenbach. Und Mainz vermengt sich jenseits des Rheins mit den Vororten von Wiesbaden. Nur eine halbe Stunde entfernt: Groß-Gerau.

Ganz so schnell wie die Nachbarn im Norden wächst die Kreisstadt nicht. „Die Stadt ist heimatverbunden und hat noch viele ‚Ureinwohner‘, die hier aufgewachsen sind“, berichtet der ehrenamtliche Erste Stadtrat Klaus Meinke. Ist der Bürgermeister verhindert, vertritt der Studiendirektor eines Darmstädter Gymnasiums ihn in seinem Büro in der ersten Etage des vierstöckigen Stadthauses; es ist ein schuhkartonähnlicher Bau im Zentrum der Stadt, der mit seinen breiten Balkonen vielleicht noch an ein Hotel erinnert, aber kaum an ein Rathaus.

Für die Verwaltung der 23.000 Einwohner zählenden Gemeinde reicht das 1956 errichtete Gebäude am Markt trotzdem. Und vom vierten Stockwerk aus kann man fast die gesamte Stadt überblicken. Die Einfamilienhäuser im Zentrum. Das Industriegebiet jenseits der Bahngleise. Zuckerfabrik und Neubaugebiete am Stadtrand und die herausgeputzten Fachwerkhäuser in der Innenstadt. Aber keine Fußgängerzone und kein Einkaufszentrum. „Die kleinen Handwerksbetriebe und Geschäfte im Zentrum, die auch besucht werden, machen unsere Innenstadt aus“, meint der Erste Stadtrat.

Die meisten Händler im Stadtkern machen zwischen 13 und 15 Uhr Mittagspause, danach trifft man sich in der kleinen Kreisstadt Groß-Gerau zum Schwätzchen im Café am Markt oder bummelt entlang der verkehrsreichen Hauptstraße, um zu überprüfen, ob die paar Geschäfte ihre Auslagen auch nicht geändert haben. Das dauert nicht lange, denn nach kaum mehr als hundert Metern verwandelt sich die schmale Hauptstraße in eine breite Schnellstraße, die das Bahnhofsgebiet auf Betonpfeilern überbrückt. Da kehren die meisten wieder um und spazieren auf der anderen Straßenseite zurück zum Marktplatz, dem Zentrum der Stadt. Viel zu erleben gibt es in Groß-Gerau nicht. Die Stadt ist zu klein für Überraschungen.

„Wenn man durch Groß-Gerau geht, sieht man wenig Identitätsstiftendes, wenig, wo die Menschen zusammenströmen, aber es ist ein kulturelles Leben auf den zweiten Blick“, sagt Jochem Kahl, der stellvertretende Leiter des Presseamtes der Kreisverwaltung, über Groß-Gerau. Trotz der unmittelbaren Nähe zum Ballungsgebiet Rhein-Main hat sich in der Kreisstadt im Hessischen eine fast dörfliche Atmosphäre erhalten, in der die Leute in Rüsselsheim oder am Flughafen arbeiten, aber in Groß-Gerau leben. Mehr als 20 Prozent der Erwerbstätigen im Kreis pendeln Tag für Tag nach Frankfurt. Die Dienstleistungsbetriebe, Kurierdienste, Großhändler und Wachdienstgesellschaften in der Nähe des Flughafens boomen. Dieser prosperierende Markt konnte die Entlassungswellen beim einst größten Arbeitgeber des Kreises Groß-Gerau ein wenig dämpfen. Die Adam Opel AG hatte vor 20 Jahren noch etwa 40.000 Arbeitsplätze. Heute sind es genauso viele, wie Groß-Gerau Einwohner hat: 23.000.

Die Nachbarstadt Rüsselsheim nennt sich selbst die Opelstadt, und das kommt der Wahrheit ziemlich nahe. Die Hälfte des Stadtgebietes gehört der Adam Opel AG. Das Werksgelände erstreckt sich entlang der Gleisanlagen, und das Besucherportal öffnet sich direkt zur Fußgängerzone gegenüber dem Bahnhof. Das Opelwerk in Rüsselsheim, in dem jährlich knapp 300.000 Fahrzeuge montiert werden, hat den Kreis Groß-Gerau national und international bekannt gemacht. Kein Fernsehspot, keine Zeitschriftenanzeige des Autoherstellers ohne das amtliche Kennzeichen „GG“. Heute wird für die Fahrzeuge aus Rüsselsheim immer häufiger mit einem „F“ geworben. Eine Kleinigkeit meint man, doch ein Ärgernis im Kreis Groß-Gerau. Denn der Buchstabenschwund wird als Zeichen eines bedrohlichen Wandels gedeutet: Das internationale Unternehmen mit lokaler Verwurzelung wird zu einem Global Player mit Produktionsstandort im Rhein-Main-Gebiet umgebaut.

Vor wenigen Monaten wurde der Neubau der Unternehmenszentrale fertig gestellt. Das großzügige Verwaltungsgebäude aus Glas und Stahl schürt die Befürchtungen des Kreises. In dem Erweiterungskomplex hat die Adam Opel AG ein Besucherzentrum integriert. „Opel Live“ heißt das Gelände, in dem der Kunde alles über das Automobil im Allgemeinen und die Autos der Marke Opel im Besonderen erfahren kann. „Alles wird anders“ ist der Slogan von Opel Live. Mit Touren durch das Werksgelände, Fahrsimulatoren und einem 3-D-Kino wird die Autoproduktion als ein Erlebnis für alle Sinne verkauft. In der konzerneigenen Veranstaltungshalle treten Größen der Jazzmusik auf, die sich weder Stadt noch Kreis leisten könnten. Horst Eckert, Leiter des Presseamtes im Kreis Groß-Gerau, äußert sich dazu eher vorsichtig. „Man wird abwarten müssen, wie sich das Projekt Opel Live entwickelt. Es ist ja erst einmal ein Projekt der Adam Opel AG, die dort ihr Werk vorstellen möchte. Es werden jetzt dort auch vermehrt kulturelle Veranstaltungen durchgeführt. Man muss mal sehen, wie sich das entwickelt.“

Vom neuen Profil des Opelwerkes in der Nachbarstadt profitiert schon jetzt das Überlandwerk Groß-Gerau. Der regionale Stromversorger mit bislang 90.000 Kunden im Kreis entwickelt sich durch seine konkurrenzfähigen Strompreise nach und nach zu einem kleinen, aber bundesweit aktiven Energieunternehmen. Über den neuen Kunden, das Werk in Rüsselsheim, ist der technische Geschäftsführer besonders froh. Heribert Braun redet über Strom wie andere Männer über ihre Autos: detailverliebt und voller Technikbegeisterung. Den Kunden aber sind Begriffe wie „Lastprofil“ oder „Durchleitung“ kaum vertraut. Für sie kam bislang der Strom aus der Steckdose. Das reichte zum Verständnis der Stromrechnung. Doch seit der Liberalisierung des Strommarktes ist das anders. Die Gewerbekunden können sich den günstigsten Anbieter aussuchen, und die Privathaushalte sind vor allem verunsichert. Jetzt müssen die ehemaligen Monopolisten um Kunden werben. In Groß-Gerau wollte man sich auf einen Preiskampf gar nicht einlassen und hat sich für eine Partnerschaft mit dem privaten Stromanbieter entschieden, denn nur so könnten die Stadtwerke im liberalisierten Strommarkt bestehen, glaubt der Stadtrat Klaus Meinke.

Den Schulterschluss der Großunternehmen fürchtet auch Kurt Zimmermann. Schon jetzt merkt er, dass durch die Zunahme der Multiplexkinos das Lichtspielhaus in Groß-Gerau noch länger auf Filme warten muss. Wenn die Vorführung der Kopien sich für die großen Säle nicht mehr lohnt, werden sie so lange in den kleinen gespielt, wie es sich irgendwie rechnet. Irgendwann kommt dann der Film nach Groß-Gerau. Früher, so erzählt Kurt Zimmermann, hat er noch persönlichen Kontakt zu den Disponenten und Disponentinnen in Frankfurt gehabt, aber das ist schon lange vorbei. Heute muss er mit ansehen, wie die Kinos sich selber kaputtmachen. „Ich sehe das wie eine Art Verdrängungswettbewerb. Man drängt sich in eine Stadt oder eine Landschaft, wo man genau weiß, da sind schon Leute etabliert. Das passiert ja schon in den Großstädten, wie soll das erst hier aussehen.“

Immer älter wird das Publikum bei ihm im Kino. Die Jugendlichen wollen die neuen Filme sofort sehen, und hier kann es nun einmal Wochen dauern, bis die Wunschstreifen anlaufen. Da fahren sie lieber raus aus Groß-Gerau nach Wiesbaden, Darmstadt oder Frankfurt. Warten darauf, dass diese Städte bis in die Kreisstadt hineinwachsen, wollen sie nicht. Und „Die Höllenfahrt der Poseidon“ werden die meisten schon im Nachmittagsprogramm des Fernsehens belächelt haben.

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