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Onkel Wanjas Panik

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Eines Morgens aufwachen und alles ist vorüber. Das Leben. Die Liebe. Vorbei. Fast unbemerkt. Das Deutsche Theater spielt schon wieder „Onkel Wanja“. Diesmal auf kahler Bühne mit jäher Kante. Das muss die Weltkante sein. Und dahinter ist alles schwarz. Kein Haus mehr auf dieser Bühne, das sich zwischen uns und das Schwarz stellt. Häuser haben Dächer. Häuser bieten Schutz.

„Onkel Wanja“ von Anton Tschechow ist ein Stück nach den Häusern. Insofern ist es ein sehr modernes Stück. Eins für uns. Unser Zustand wurde schon als die „panische Kultur“ beschrieben. Vielleicht, weil es nichts Festes mehr gibt, an das wir uns halten können. Der Unterschied zwischen Onkel Wanja und uns ist nur, dass Onkel Wanja es eben gerade erfährt. Sein Leben lang hat er für den Schwager gearbeitet, den berühmten Literaturprofessor Serebrjakow. Alle seine Artikel haben sie gelesen an den langen Abenden draußen auf dem Gut. Und nun ist dieser Serebrjakow da, und Onkel Wanja erkennt: Der weiß gar nichts von Literatur. Der hat sein Leben lang über etwas geschrieben, wovon er nichts versteht. Onkel Wanja verliert einen Gott. Oder soll man sagen: Er verliert seine Mitte?

Die Historiker mit ihrem seltsamen Sinn für Ordnung und Ordnungen unterscheiden zwischen stabilen und relativ instabilen Gesellschaften. Wir gehören zu den vergleichsweise instabilen. Wir leben in einem empfindlichen politischen und ökonomischen Gleichgewicht. Ohne wirkliche Mitte. Scheinbar sicher und doch sehr nah an Onkel Wanjas Weltkante.

Das Deutsche Theater lehnte den „Onkel Wanja“ 1901 ab. „Sehr geehrter Herr!“, schrieb es, „Ihre freundlichst eingereichte Übersetzung der ländlichen Szenen ... von Anton Tschechow haben uns als stimmungsvolle Schilderung verrotteter Familienzustände auf dem Lande ... lebhaft interessiert. Leider ist die dramatische Handlung nur gering ... Hochachtungsvoll Ergebenst Deutsches Theater Berlin“. Das ist es. Moderne Dramen sind eher undramatisch. Man bemerkt sie kaum. Sie ähneln mehr einem Delirium.

Der Single ist die Erfüllung aller philosophischen Hoffnungen

Und was heißt „verrottete Familienzustände“? Natürlich war Onkel Wanja in gewissem Sinne der erste Single des modernen Dramas. Prototyp einer neuen Lebensform. Der Spiegel hat gerade eine Single-Nummer gemacht. Er stellt darin fest, dass es sich beim Single um das höchst entwickelte Wesen der Geschichte handelt. Das war gar nicht ironisch gemeint. Denn der Single ist in der Tat die Erfüllung aller philosophischen Hoffnungen. Das völlig autonome, sich selbst übernehmende Subjekt. Gelöst aus allen Abhängigkeiten, vor allem den blinden. Selbst-bestimmt.

Houellebecq macht es sich viel zu einfach, wenn er das zeitgenössische Singletum mit eigensüchtigen Achtundsechziger-„Schlampen“, die dann Mütter wurden, erklärt („Elementarteilchen“). Nein, Singles sind Selbstexperimentatoren, Selbstverwirklicher, Vertreter eines Ein-Mann-Kommunismus. Die Marx’sche Forderung, jeder solle nach seinen Bedürfnissen leben, befolgen sie täglich von neuem. Marx meinte alle, aber braucht es nicht immer eine Vorhut? Niemand ist so nah dran am Ziel der Geschichte wie der Single.

Und doch ist das höchst entwickelte zugleich das panischste Wesen. Eine Art Gesamtonkel Wanja. Auch er lebt ständig an der Kante.

Freiheit? Wer hat bisher darüber nachgedacht, wie schwer es wirklich ist, nichts mehr sollen zu müssen. Bis auf die professionellen Misanthropen, die stets davor gewarnt haben, das Volk frei zu lassen. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit, hatte Marx geglaubt. Nein, er verstand doch nichts von uns. Nichts von einem Zustand der Abwesenheit aller Notwendigkeiten.

Vielleicht ist es diese seltsame Schwerelosigkeit der Existenz, dieses Leben im Vakuum, das uns zugleich unter einen seltsamen Dauerdruck setzt. Gegenwart als Druckverhältnis. Man spürt es fast täglich auf der Straße. So viele Menschen, die kurz vor einer Explosion zu stehen scheinen. Werden es nicht immer mehr? Sollte eine simple Pressions-Wissenschaft bald die traditionelle Psychologie ersetzen?

Und wie diese Amokläufe von Kindern erklären, die vielleicht bald so alltäglich werden wie die Nachrichten von Hungersnöten und Überschwemmungen. Laufen Menschen in traditionellen Kulturen Amok? Vor einem Jahr Littleton in Colorado, Bad Reichenhall, dann der Junge aus Meißen, der seine Lehrerin erstach.

Und eben gerade wollte eine Sechzehnjährige in Müncheberg ein Massaker verüben. Sissi heißt sie. Was für ein Name für eine Attentäterin. Auch diese Jugendlichen leben mitten unter uns an unsichtbaren Weltkanten. Wer hat sie dort hingestellt? Natürlich, Amokläufe plant man nicht. Aber der Unterschied ist graduell. Es sind Nachwachsende einer panischen Kultur.

Tradition und eine gewisse Statik des Lebensgehören zusammen

Schuld ist der Werteverlust, sagen die Fachleute, wenn sie vom jeweils nächsten Fall hören. Wir müssen die christliche Erziehung verstärken!, konkretisieren die Konservativen. Sie scheinen immer schon vorausgesetzt zu haben, was längst auch linke Denker glauben: dass diese Gesellschaft keine eigenen Werte produziert. Dass sie vom Wertehaushalt vergangener Epochen lebt. Aber heilt man junge Paniker mit dem Christentum? Die Jugend der Älteren fiel noch nicht ins Hochbeschleunigungszeitalter. An ihnen konnte die Tradition noch ihre erzieherische Aufgabe vollenden. Tradition und eine gewisse Statik des Lebens gehören zusammen. Unsere Gesellschaftszentrifuge macht es der Tradition viel schwerer. Zentrifugenbewohner sind Schwererziehbare.

Wie die Zentrifuge wirkt, wie sie Werte, überhaupt alles „Ideologische“ ausstößt, lässt sich besonders gut an den Grünen lernen. Vor eineinhalb Jahren hat sie die Grünen angesaugt. Aus der eher statischen, werthaften Randposition mitten ins Zentrum der Macht. Und plötzlich galt das Gegenteil in Kriegs- und Ökologiefragen oder wofür die Grünen noch stehen mochten. Trittin hat eine Zeit lang versucht, die Umdrehungszahlen zu drosseln. Es schien nur dilettantisch. Lafontaine ging von selbst. Mensch gegen Zentrifuge – ein zu ungleiches Duell. Man hat es ihm als Charakterlosigkeit ausgelegt. Wahrscheinlich war es das Gegenteil.

Lafontaine wollte ein Mann mit Eigenschaften bleiben.

Der Single ist derAnti-Diener schlechthin.Er ist nur – zu leicht

Misslungen ist geschichtlich die Versöhnung von „leicht“ und „schwer“. Die Moderne war ein unaufhörliches Erleichterungsprojekt. An ihrem Ende stehen Zentrifugenbewohner. Von Beruf Informatiker, Börsianer oder Journalist. Völlig frei und schwerelos. Rührt daher unsere Panik?

Natürlich gibt es solche, die uns heilen wollen. Alles wieder schwerer machen. Wollte man aus den literarischen Klagen des Botho Strauss eine Summe ziehen, so müsste sie lauten: Die Menschen haben das Dienen verlernt. – Der Single, das höchst-entwickelte Wesen der Geschichte, bleiben wir dabei, ist der Anti-Diener schlechthin. Er ist nur – zu leicht. Er hat die Erdengewichte verloren wie Onkel Wanja.

Also bleibt vorerst nur, diesen Zustand auszuhalten. In den klarsten Augenblicken wohl mit jener streng gezügelten Panik, die Christian Grashof jetzt als Wanja am Deutschen Theater spielt. Mit der dieses Theater noch einmal erschütternd zurückfindet auf jene Höhe, die es in den Achtzigerjahren hatte.

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