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Der Geschmack des Lebens

Die Dialektik in der Schwebe: Der neue Film des iranischen Filmemachers Abbas Kiarostami ist philosophischer und heiterer denn je. In „Der Wind wird uns tragen“ führt das Warten auf den Tod mitten hinein ins pure Dasein

von KATJA NICODEMUS

In diesem Film lernt ein Mann das Sehen. Zu Beginn schlängelt sich ein Auto in Serpentinen durch sanfte Hügel. Die Kamera blickt von hoch oben auf das Panorama hinab. Im Off verfolgen wir die Gespräche der Insassen, so klar und nah, als säßen wir mit im Auto. Es geht ihnen nur darum, die Zeichen der Wegbeschreibung zu finden, den einen Baum, der die Biegung zum Dorf markiert.

Gegen Ende von „Der Wind wird uns tragen“ sitzt derjenige, der das Auto fuhr, auf dem Rücksitz eines Motorrads, das ein alter Mann steuert. Diesmal schlängeln sich die Serpentinen durch satte Weizenfelder und Wiesen, die fast zu schön sind, um wahr zu sein. Man hört den Wind, der Alte zitiert eine lyrische Hymne an das Leben, ein Gedicht des iranischen Mystikers Omar Khayyam. Die Natur ist zum Greifen nahe, und das Bild ist reine Landschaft.

Von der selektiven Wahrnehmung zum umfassenden Empfinden des Daseins. Abbas Kiarostamis Film enthält das, was zwischen diesen beiden Haltungen und damit zwischen den beiden Fahrten liegt, ohne dass er davon erzählt. So wie seine Filme immer mehr sind als die Geschichte, die man sich daraus zusammensetzen kann. Eine fließende Komposition, immer in Bewegung und dabei jeden Augenblick im Gleichgewicht.

Es ist nicht so einfach, zu sagen, wie das Empfinden dieser Balance entsteht. Kiarostamis Filme sind zugleich mit sich eins und in der Schwebe. Sie bestehen aus der Art von Bewegung, die wieder in die Ruhe führt, und auch wenn in ihnen allerlei Existenzielles geschieht – Verlieben, Sterben, Vorbereitung eines Selbstmords, die Suche nach den Überlebenden eines Erdbebens –, hat man doch am Ende immer das Gefühl, dass genauso gut nichts geschehen sein könnte. Vielleicht weil jede Bewegung von der nächsten aufgehoben, jedes Ereignis ins Verhältnis zu einem anderen gesetzt wird. Kiarostamis Kino funktioniert dialektisch, schon auf einer ganz elementaren Ebene.

Lebenszeichen des Todes

In „Der Wind wird uns tragen“ bewegt sich ein Fremder aus der Großstadt durch ein kleines Dorf und seine nahe Umgebung. Rennt er mit dem Handy einen Hügel hinunter, dann steigt, kurz bevor er aus dem Bild verschwindet, ein anderer Mensch diesen Hügel hinauf. Hinterlässt er auf seinen Wegen durch das verwinkelte Dorf einmal eine menschenleere Totale, dann tritt garantiert irgendwo im Bildhintergrund eine Frau aus dem Haus, oder eine meckernde Ziegenherde füllt die Leere wieder aus. „Und das Leben geht weiter“, so heißt ein Film, den Kiarostami Anfang der 90er-Jahre im vom Erdbeben verwüsteten Nordwesten des Iran gedreht hat. Der Titel gilt für jede einzelne seiner Einstellungen.

Im dialektischen Fluss befinden sich auch die Dialoge. Eher sind es sokratische Gespräche, in deren Verlauf jede Antwort eine Frage, ein Gedanke den nächsten hervorbringt. In Kiarostamis Roadmovie „Der Geschmack der Kirsche“ zum Beispiel offenbart ein zum Freitod Entschlossener den wechselnden Mitfahrern seine Absicht. Parallel zur kurvigen Strecke über ockerfarbene Hügel verlaufen die philosophischen Windungen der Unterhaltung im Auto. Das Für und Wider von Leben und Sterben findet zwar keine Auflösung, doch die Beschreibung eines unmittelbaren Sinneseindrucks bringt den Selbstmordplan immerhin ins Wanken: Ein alter Mann schwärmt vom Geschmack und der Konsistenz frischer Maulbeeren.

Auch im neuen Film kreisen die Gespräche immer wieder um den Tod, manchmal ganz schlicht metaphorisch, wie am Anfang, wenn der gerade angekommene Fremde den Zustand seines heißgelaufenen Autos mit der körperlichen Erschöpfung eines Menschen gleichsetzt. Er macht sich den kleinen Farzad zum Freund und Wegbegleiter durch das verwinkelte, in einen Hang hineingebaute Dorf. Auf den gemeinsamen Pfaden erfährt man den Grund des Aufenthalts: Der Fremde wartet auf das Ableben einer alten Frau, weil er eine seltene Trauerzeremonie festhalten will.

In den Unterhaltungen entspinnt sich ein merkwürdiges Ritual. Bei jedem Treffen erkundigt sich der Fremde, wie es „ihr“ denn gehe. Doch immer stellt sich der Junge dumm, wirft den anderen auf die Scheinheiligkeit der Frage zurück. Selbst die unschuldige Abschiedsformel „Möge Gott dir ein langes Leben bescheren“ bekommt plötzlich einen zweideutigen Unterton.

Die Sterbende bleibt den ganzen Film über unsichtbar hinter einem kleinen Fenster, doch ihr Zustand produziert immer neue Zeichen des Lebens. Kommende und gehende Verwandte, ein im Hof wachender, ebenfalls schon ziemlich alter Sohn, Nachbarn, die Suppe bringen – die kleinen Geschichten und Geschäftigkeiten um die letzten Tage eines Menschen bilden das zugleich alltägliche und sakrale Leitmotiv von „Der Wind wird uns tragen“. Sollte die Alte eine der angebotenen Suppen essen, so der Glaube, geht für die Köchin ein Wunsch in Erfüllung.

Immer wieder führt das klingelnde Handy den Fremden auf einen nahe gelegenen Hügel. Hier ist der Empfang besser, und hier liegt zufällig auch der Friedhof des Dorfes. Achtlos trampelt der Telefonierende übers Terrain. Ein Mann, der nicht zu sehen ist, gräbt ein Loch und singt dabei ein Liebeslied. Der Wind trägt die fröhliche Melodie über die Gräber, und alles schießt in einem einzigen absurden Augenblick zusammen: Vergänglichkeit und Lebenslust, längst Verstorbene und zukünftige Tote, der Verliebte unten im Loch und der Zyniker oben auf der Erde, die Alte, die partout nicht sterben will und auf deren Seite wir uns längst geschlagen haben.

Unsichtbare Figuren wie der Mann im Loch sind bei Kiarostami nichts Ungewöhnliches. Etwa die Hälfte der Personen in „Der Wind wird uns tragen“ hält es nicht für nötig, im Bild aufzutauchen. Die Kollegen der Hauptfigur zum Beispiel, die seit der Ankunft nur herumlungern, schlafen, hin und wieder Erdbeeren essen und sich über das ausbleibende Ableben der alten Frau beklagen. Dabei bleiben sie im Off, im dunklen Zimmer, im Hintergrund, am Wegesrand, wo auch immer. Auch das Dorfleben macht sich in weiten Teilen auf der Tonspur breit, ohne in Erscheinung zu treten. Mit leisen Stimmen, Rufen, Schimpfen, Ziegengemecker, Hühnergegacker, Arbeitsgeräuschen. Das Leben geht weiter, auch jenseits der Einstellung. Bei Kiarostami fügt das Off dem Bildfeld weiteren Raum hinzu – einen Raum, in dem sein Kino genauso selbstverständlich zu Hause ist wie im Sichtbaren.

Die Freiheit des Blickes

In einer der schönsten Szenen von „Der Wind wird uns tragen“ sieht man so gut wie gar nichts. Unter dem Vorwand, Milch zu holen, verschafft sich der Fremde Zutritt bei der Verlobten des verliebten Gräbers. Im unterirdischen Stall sind die beiden für einen Augenblick allein. Während sie die Kuh melkt, zitiert er ein erotisches Gedicht. Auf seine so überraschende wie unverschämte Bitte, das Kopftuch zu lüften, reagiert sie nicht. Sehen wollen und sich verbergen sind für einen unerhörten Augenblick die Elemente eines Machtkampfes im stockdunklen Keller. Vergeblich hat der Fremde versucht, plötzlich einen Teil jenes Lebens zu erhaschen, an dem vorbei er die ganze Zeit auf den Tod geblickt hat.

Dass sich die Sicht verändert hat, signalisiert auch eine andere, ganz beiläufige Szene. Bei einer seiner vielen Handy-Expeditionen auf den Friedhof fällt der Blick des Fremden auf einen Skarabäus-Käfer, der eine überdimensionale Kugel vor sich herrollt. Er bleibt in einer winzigen Senke hängen, strampelt und rettet sich hinaus. Auch so geht das Leben weiter.

Was bringt den Fremden dazu, das Dorf unverrichteter Dinge zu verlassen, obwohl die alte Frau gestorben ist? Die Antwort liegt irgendwo im Fluss von Bildern, Worten, Licht, Wind und Tönen. Dass dieser Fluss bei Abbas Kiarostami bis zur letzten Minute eine dialektische Bewegung vollführt, daran erinnert die letzte Einstellung. Denn natürlich braucht dieser Film, in dem so lange auf den Tod gewartet wurde, eine Beerdigung: Ein menschlicher Oberschenkelknochen schwimmt ein Stück den Bach entlang. Und das ist noch einmal ein unerhörter Augenblick.

„Der Wind wird uns tragen“. Regie: Abbas Kiarostami. Mit Behzad Dourani und den Bewohnern des Dorfes Siah Dareh u. a. Frankreich/Iran 1999, 118 Min.

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