: Realismus ohne Grenzen
Pflegen und pflegen lassen: Enda Walshs Einpersonenstück „Misterman“ undDaniel Danis’ Familiendrama „Das Lied vom Sag-Sager“ an der Schaubühne
Das Wochenende in der Schaubühne war wieder ausgesprochen depressiv. Zwei Stücke über pflegebedürftige Menschen, die aber selbst pflegen, statt gepflegt zu werden, was naturgemäß bloß Tod und keineswegs Gesundheit nach sich zieht. Dafür allerdings so manchem Zuschauer einen tiefen und gesunden Schlaf bescherte. Zunächst inszenierte Peter Wittenberg die deutsche Erstaufführung von Daniel Danis’ nicht sehr prickelndem Familiendrama „Das Lied vom Sag-Sager“.
Drei schräge Brüder pflegen ihre Schwester, die in einem geheimnisvollen Koma liegt. Die „Pflege“ aber ist eher eine Art Folter mit Methoden der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Am Ende versenken die drei Brüder Schwester Noéma im Moor und schneiden sich selbst die Zungen ab.
Enda Walshs Einpersonenstück „Misterman“ führt in die Untiefen des irischen Kleinstadthorrors. Thomas (Tilo Werner, der mit Rachel West und Ralf Käselau das Stück auch einrichtete) pflegt seine bettlägerige Mutter. Eigentlich gehört der Mann selbst unter Aufsicht. Man ahnt das, wenn man ihn leicht irre in sich hineinlächeln sieht. Es kommt, wie es kommen muss: Erst tritt er einen Hund tot, am Ende tötet er ein Mädchen, das ihn abgewiesen hat.
All dies hört man aber bloß und sieht es nicht. Thomas ist allein auf dem kleinen Podest im Schaubühnen-Foyer. Erst sieht man ihn hinter den großen Fenstern vom Bürgersteig vor der Diskothek Far-Out sich langsam nähern. Irgendwann ist er dann drin: mit verklemmter Miene und im Dialog mit einem umgehängten Kassettenrekorder, der Geräusche und die Stimme seiner Mutter, am Ende auch den Schrei des Mädchens, das er tötet, aufgenommen hat.
Die übrigen Figuren, mit denen dieser arme Kerl sich auseinandersetzt, sprechen sozusagen durch ihn hindurch. Dann fährt auf einmal eine fremde Körperhaltung in den Schauspieler hinein, eine andere Miene, und es stehen da: der Friedhofswärter am Grab des Vaters, die frivole Kaffeehausbesitzerin, Leute, denen Thomas auf der Straße begegnet. Tilo Werner spielt das sehr virtuos, und es lässt einen trotzdem ziemlich kalt, weil man immer noch wenig über die Figur erfährt, die Werner spielt. Bloß davon, wie Werner sich so einen Typ vorstellt und wie er mit jeder Menge Gesten und Körperhaltungen dieser Vorstellung Ausdruck gibt.
Beim „Sag-Sager“ spielt einem der neue Schaubühnen-Realismus erst mal einen Streich. Da kommt eine schrille Blonde im engen Jäckchen aus rotem Schlangenleder-Imitat die Treppe der Zuschauertribüne herab. So ähnlich sahen auch Passanten im Personenkreis 3.1 aus. Die knallrote Handtasche an den Körper gepresst, drückt sich die Frau dann mit Jule-Böwe-mäßigem Gesichtsausdruck durch die Reihen auf ihren Platz. Man denkt: Das Stück hat also angefangen. Aber dann passiert lange nichts, und schließlich merkt man, dass hier jemand einfach zu spät gekommen ist.
Doch in der Schaubühne sehen die Zuschauer jetzt immer den Leuten auf der Bühne so ähnlich, dass es schwer zu sagen ist, wo zwischen Darstellung und Selbstdarstellung die Grenze verläuft.
Dann stolpert Anna Schudt als Noéma über ein großes, silbergraues Tuch, das hinten aus der nackten Betonwand heraushängt und bis zu den Zuschauern reicht. Hüllt sich in eine Decke, setzt einen Hut auf und pflanzt sich auf ein altes Sofa, das da neben ein paar alten Stühlen steht. Ein Pfiff, der Startschuss für zwei Stunden ungepflegte Langeweile.
ESTHER SLEVOGT
„Misterman“: 15. und 16. 4., 22 Uhr, 17. 4., 21 Uhr; „Das Lied vom Sag-Sager“: 30. 4., 20 Uhr, Schaubühne, Lehniner Platz
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