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Dachgarten aus Eis

Die diesjährige Klettersaison am Mount Everest steht ganz im Zeichen von George Mallory, dem 1924 in Gipfelnähe abgestürzten Engländer

von MATTI LIESKE

Bergsteiger, die zu Beginn der 80er-Jahre über den Südostgrat dem Gipfel des Mount Everest entgegenstrebten, waren einer Begegnung der besonders beklemmenden Art ausgesetzt. Direkt am Weg sitzend, so als habe sie nur eine kurze Pause eingelegt, blickte ihnen mit weit geöffneten Augen eine Frau entgegen, deren langes Haar im Wind flatterte: eine deutsche Alpinistin, die 1979 zwar die Spitze des Himalaya-Riesen erreicht hatte, dann aber beim Abstieg ums Leben gekommen war.

Eine makabre Mahnung für alle Gipfelstürmer, dass eine Bergbesteigung erst dann erfolgreich beendet ist, „wenn man im Basislager ankommt und seinen Freunden davon erzählen kann“, wie es der baskische Kletterer Juanito Oiarzabal formuliert, der bereits auf sämtlichen Achttausendern gestanden hat. Die ersten Menschen, die den Mount Everest erklommen, ohne ihren Freunden später davon erzählen zu können, waren 1924, noch 29 Jahre vor den offiziellen Erstbesteigern Edmund Hillary aus Neuseeland und Norgay Tensing aus Nepal, möglicherweise die Engländer George Leigh Mallory und Andrew Irvine.

Der Welt höchster Friedhof

Mehr als 150 Menschen sind bei dem Versuch ums Leben gekommen, die höchste Erhebung der Erde zu bezwingen, und die Gipfelpyramide des Everest ist gesäumt mit Leichen. Die berühmteste, jene von Mallory, wurde im vergangenen Jahr vom US-Amerikaner Conrad Anker entdeckt, was einen veritablen Boom auslöste. Zahlreiche Bücher sind seither erschienen, die sich mit Mallory befassen, einige von Angehörigen jener Gruppe, die ihn fand, eins vom unvermeidlichen Reinhold Messner und schließlich der originale Expeditionsbericht, der beim Berliner Sportverlag unter dem Titel „Bis zur Spitze des Mount Everest“ erschienen ist.

Nicht wenige der Gruppen, die in den nächsten Wochen die diesjährige Everest-Besteigung in Angriff nehmen werden, tun dies auf der damals von den Engländern gewählten Nordroute über Tibet, drehen Filme über Mallory oder suchen weitere Indizien, die Auskunft über die Frage geben: War er nun oben oder nicht? Eine Diskussion, welche die Auffindung des mumifizierten Körpers des beim Abstieg verunglückten Mallory nicht beendete, sondern eher noch anheizte, da sich die Kamera mit Fotos vom Aufstieg nicht, wie erhofft, in seinen Taschen fand. „Die Frage des etwaigen Gipfelsieges wird erst entschieden, wenn spätere Ersteiger irgendwelche Spuren finden“, hatte Edward Norton im Bericht der Expedition von 1924 hoffnungsfroh geschrieben, doch auch nach inzwischen bald tausend Besteigungen des 8.848 Meter hohen Mount Everest ist das Geheimnis nicht gelöst.

Zuletzt gesehen wurden George Mallory, damals 38 Jahre alt, und sein 22-jähriger Begleiter Andrew Irvine gegen Mittag des 8. Juni 1924 von dem Geologen Noel Odell, zügig kletternd in einer Höhe um 8.600 Meter. Die meisten führenden Alpinisten der heutigen Zeit halten es für ausgeschlossen, dass Mallory, einer der der besten Bergsteiger seiner Zeit, oder gar der unerfahrene Irvine in der Lage gewesen sein könnten, die so genannte „Zweite Stufe“, eine 30 Meter hohe Steilwand, zu überwinden und zum Gipfel zu gelangen. Odell indessen war zumindest anfangs überzeugt, die beiden oberhalb der Zweiten Stufe gesehen zu haben. Manch einer sagt den Skeptikern auch ein gewisses Imageproblem nach. Wenn Mallory mit für heutige Verhältnisse absolut primitiver Ausrüstung den Everest erklommen hätte, würde das die stolzen Leistungen der High-Tech-Kletterer der Neuzeit durchaus relativieren.

Picknick mit Frostgefahr

„Wie ein Picknick in Connemara, das in einen Schneesturm geraten ist“, kamen George Bernard Shaw der berühmte Mallory und seine Kollegen vor, als er Fotos ihres Unternehmens betrachtete, und der Expeditionsbericht beweist, dass der irische Spötter so falsch nicht lag. An einer Stelle zählt Oberst Norton auf, wie er der Todeszone unterhalb des Gipfels trotzte und immerhin in eine Höhe von 8.564 Meter gelangte: „Leibchen und Unterhose aus dicker Wolle, ein dickes Flanellhemd, zwei Schlüpfer; darüber einen Berganzug aus winddichtem Gabardine, dessen Kurzhosen mit Flanell gefüttert waren; ferner weiche Wadenbinden aus Kaschmir. Die Ledersohlen der mit Leder besetzten Filzstiefel waren berggerecht, aber nicht sehr schwer benagelt. Alles bedeckte ein langhosiger Windanzug aus Burberrys Shackleton-Wind-Gabardine. Die Hände staken in langen Wollfäustlingen mit Überzügen aus Gabardine.“ Eine Ausrüstung, mit der man heutzutage nicht mal dem Großglockner zu Leibe rücken würde.

Trotz aller Entbehrungen und Strapazen wohnt dem Bericht der Expeditionsteilnehmer eine stoische Gelassenheit inne. Der sechswöchige Treck von Darjeeling zum tibetischen Basislager, die Auf- und Abstiege in immer größere Höhen, dramatische Momente im eisigen Horrorkabinett des Himalaya, all das wird lakonisch und distanziert berichtet, als handele es sich tatsächlich bloß um eine Art Picknick mit Frostgefahr und nicht um einen Überlebenskampf in einer Region, die eigentlich kein menschliches Leben duldet.

Kochen übler als Klettern

„Das Lager I ist immer ein schöner Sonnenkurort gewesen“, schwelgt Norton, der die „Küchenwirtschaft“ anstrengender findet als das Klettern. Und wo moderne Zeitgenossen ihre Übernachtungen in großer Höhe als Martyrien der extremen Art beschreiben, bewertet der zähe Oberstleutnant seinen Aufenthalt in 8.200 Meter Höhe als „schönste Nacht seit Lager I“.

Etwas drastischer ist Mallory, der in den Briefen an seine Frau immerhin von „fürchterlichen Nächten“ und der „Hölle von Lager III“ zu berichten weiß. Was die englischen Gentlemen nicht hindert, sich mitten in der Hölle abends an Gedichten von Keats oder an Shakespeare-Versen zu delektieren. Erstaunlich ist, dass die Briten den eigenen Schilderungen zufolge selbst weit oben am Berg leistungsfähiger sind als ihre Sherpas. „Vielleicht ist man nicht ganz gerecht, wenn man unsere Träger mit allen Orientalen in einen Topf wirft“, schreibt Geschichtslehrer Mallory in gönnerhafter Kolonialistenmanier an seine Frau, „denn sie halten recht lange aus.“ Beim Gipfelsturm sind die Männer des Empire dann unter sich. Erst Norton und Howard Somervell, der wegen seines heftigen Hustens bald zurückbleibt, dann Mallory und Irvine an jenem verhängnisvollen 8. Juni.

„Der Mount Everest hat seinen größten Gegner verloren“, würdigte Edward Norton George Mallory, der zu seiner Zeit als perfekte Inkarnation des Abenteurers und Gentleman britischer Prägung Weltruhm genoss und nach seinem Tod bald zur Legende wurde. „Weil er da ist“, soll der berühmte Satz gelautet haben, mit dem Mallory sein nimmermüdes Streben nach der Besteigung des Everest begründet haben soll, am Erfolg dieser Mission hat er trotz der früheren Fehlschläge 1921 und 1922 kaum gezweifelt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nicht hinaufkomme“, schrieb Mallory, für den das Bergsteigen eine Form der Kunst war, am 24. April 1924 seiner Frau. Das Geheimnis, ob ihn diese Zuversicht tatsächlich sechs Wochen später auf den Gipfel trug, harrt indes weiter seiner Lösung.

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