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DER EUROPARAT SUSPENDIERT DAS STIMMRECHT RUSSLANDSHohle Geste

Die Frage, inwieweit eine Institution ihre eigenen Prinzipien diskreditieren lassen kann, ohne dabei massiv an Glaubwürdigkeit einzubüßen, hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates am Donnerstag zumindest teilweise beantwortet. Und so hebt sich der Beschluss, der russischen Delegation wegen des Krieges in Tschetschenien das Stimmrecht zu entziehen und den Ministerrat aufzufordern, Moskaus Migliedschaft in dem Gremium zu suspendieren, wohltuend von dem unentschlossenen Geeiere ab, das noch die letzte Sitzung vom Januar in Straßburg bestimmte.

Dennoch: Äußerungen von Beobachtern, die dem Europarat jetzt außergewöhnlichen Mut attestieren und die russische Regierung unter wachsenden Druck wähnen, schießen weit über das Ziel hinaus. Zwar haben sich die Hüter von Demokratie und Menschenrechten weit aus dem Fenster gelehnt, sich dabei aber immer noch genug Möglichkeiten offen gelassen, die Köpfe schnell wieder einzuziehen. So kann der Entzug des Stimmrechts jederzeit wieder rückgängig gemacht werden. Und dass der Rat der Außenminister wirklich den Ausschluss Russlands beschließt, glauben wohl nicht einmal die schärfsten Kritiker Russlands.

Wie präsent dieses Dilemma auch den Verantwortlichen in Moskau ist, zeigt der Kommentar von KP-Chef Gennadij Sjuganow, im Westen hätten jetzt diejenigen Kräfte triumphiert, die nicht begreifen können, dass Europa nichts sei ohne Russland. Dass Moskau sich vor diesem Hintergrund wieder einmal zum Opfer stilisiert und in Kalter-Kriegs-Rhetorik ergeht, liegt da nur in der Natur der Sache. Womit wieder einmal bewiesen wäre: Klappern gehört zum Geschäft, in Straßburg wie in Moskau.

Das Katastrophale ist nur: Für diejenigen, um die es bei dem Ganzen eigentlich geht, nämlich die Menschen in Tschetschenien, wird sich überhaupt nichts ändern. Sie werden auch weiter Opfer von Vertreibung, Folter und Mord sein. Und das nur noch etwas unbeobachter als vorher, denn es steht zu befürchten, dass – quasi als Trotzreaktion – internationale Beobachter jetzt in Tschetschenien nicht einmal mehr Potemkinsche Dörfer zu Gesicht bekommen werden.

Schon vorher, und nach dem Straßburger Beschluss erst recht, wird von russischer Seite die Parole ausgegeben: Der Krieg in Tschetschenien wird weitergeführt, die „Banditen“ werden ausgerottet bis zum letzten Mann. Diese Aussage gilt es ernst zu nehmen. Und so scheint eine Erkenntnis unumgänglich, trotz aller diplomatischen Bemühungen und symbolischer Akte: Fakten werden in Grosny und Umgebung geschaffen, nicht in Straßburg.

BARBARA OERTEL

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