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Diktator am Zug

Garri Kasparow versteht sich auf taktische Spiele. Ihn herausfordern darf nur, wer sich auf dem Schachbrett seiner Interessen bewegen lässtvon HARTMUT METZ

Man stelle sich vor, die deutsche Nationalmannschaft gewänne bei der Fußball-Europameisterschaft ihr Halbfinale – zugegebenermaßen ein ebenso kühner wie abstruser Gedanke, dass die Ribbeck-Elf überhaupt die Vorschlussrunde erreicht. Und danach entschiede Gastgeber Niederlande, der andere Halbfinalsieger, auch noch: „Ach nee, die Deutschen sind zu schwach. Im Endspiel messen wir uns lieber mit den Italienern. Das begeistert die Massen viel mehr.“

Ein vergleichbares Hirngespinst ersann Garri Kasparow. Seit dem Bruch mit dem Schach-Weltverband Fide 1993 hat die Nummer eins nur noch zweimal um den WM-Titel gespielt, den er aus historischen Gründen als sein Privateigentum betrachtet. Den im Vorjahr in Las Vegas gekrönten Alexander Chalifman als 14. Weltmeister der Schach-Geschichte zu bezeichnen, wertet Kasparow als Beleidigung seiner Person sowie der zwölf Champions zuvor. Tatsächlich verbindet den Russen, der am Donnerstag 37 Jahre alt wird, mit seinen Vorgängern vor allem eines: Die Weltmeisterschaft setzten sie nur selten und nur gegen genehme Kontrahenten aufs Spiel.

Vor fünf Jahren trat Kasparow letztmalig zu einem Zweikampf gegen den Inder Viswanathan Anand an. Das Schachvolk murrte ob der seltenen Duelle, auch wenn die vielen Turniersiege des Moskauers jeden Zweifel an seiner Überlegenheit vertrieben. 1998 sollten seine Kronprinzen Anand und Wladimir Kramnik untereinander den Herausforderer ausspielen. Anand mochte nicht, weshalb der Weltranglistenvierte, Alexej Schirow, nachrückte. Dummerweise bezwang der Wahl-Spanier Kramnik mit 5,5:3,5. Weil Kasparow sich mit Schirow nicht handelseinig wurde, reaktivierte er Anand als Herausforderer.

Schirow, der geprellte „Hexer von Riga“, durfte sich jedoch bald darüber freuen, dass die vielen Versprechungen des Weltranglistenersten gegenüber Anand nicht das Papier wert waren, auf dem sie gedruckt standen. Aus Schaden klug geworden, forderte Anand, der „Tiger von Madras“, bei einer neuen Offerte eine Vorauszahlung von 300.000 Dollar. Weder auf dem Brett noch anderswo lässt sich Kasparow etwas freiwillig diktieren – und zauberte kurzerhand Kramnik als neuen Herausforderer aus dem Hut.

Vom 9. Oktober bis 9. November sitzen sich nun die beiden Kosieger von Linares, dem Wimbledon des Schachs, in 16 Partien gegenüber. Endet der mit zwei Millionen Dollar dotierte Wettkampf in London 8:8, würde Kasparow „seinen“ Weltmeisterschafts-Titel behalten. Den will er dank einer Geldspritze der Braingames Network (BGN) für dieselbe Summe bis 2004 noch zweimal verteidigen. Im nächsten Zyklus sollen die 24 besten Großmeister und ein Qualifikant aus einem Internet-Wettbewerb Kasparows Kontrahenten ermitteln.

Natürlich fühlt sich der Kramnik-Bezwinger Schirow durch die neue Entwicklung noch mehr hintergangen. „Ich werde um meine Rechte betrogen. Das WM-Duell gehört eindeutig mir. Kramnik kassierte das Preisgeld für den Verlierer – und erhält jetzt auch den Preis für den Sieger, das WM-Match“, empört er sich, „unglaublich, aber leider wahr.“ Kasparow giftet zurück: „Gegen Schirow gewänne ich leicht. Danach hieße es wieder, ich suchte mir nur Opfer als Gegner aus.“

Die Statistik spricht in der Tat für einen Vergleich mit Kramnik. Nur der 24-Jährige bot dem „Ungeheuer aus Baku“, wie spanische Journalisten den gebürtigen Aserbaidschaner nennen, Paroli. Insgesamt steht es in den klassischen Partien 3:3. Anands 3:14-Statistik und Schirows neun Niederlagen bei keinem Sieg wirken dagegen jämmerlich. Am moralischen Recht des Letten auf das WM-Finale ändern die Zahlen indes nichts, auch wenn Kasparow verbreitet: „1998 wollte Schirow nicht für eine Million Dollar in Kalifornien spielen. Er war krank, abzulehnen. Jetzt herrscht eine andere Situation mit einer neuen Kontrollinstanz.“ Welche neue Kontrollinstanz meint er? Seit 1985 gibt es doch nur einen Diktator auf den 64 Feldern. Kasparow.

Zitat:

Kasparow: „Gegen Schirow gewänne ich leicht. Danach hieße es dann wieder, ich suchte mir nur Opfer als Gegner aus.“

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