Dies- und jenseits der Ritze

Frauenemanzipation ist ein Trend dieser Gesellschaft, Pornografisierung der Medien ein anderer. Und arte lässt Frauen und Männer ab 20.45 Uhr einen Themenabend lang über Sex reden

von PHILIPP SCHULZ

Gerade erst hatten wir uns befriedigt zurückgelehnt. Die Deutschen zeigten Focus-Fakten zufolge noch vor einem Jahr „neue Gelassenheit“ in Sachen Sex, und wenigstens den Franzosen bescheinigten Umfragen gerade noch ausreichende Koitushäufigkeit. Doch gute Nachrichten machen misstrauisch. Ausgerechnet in unserem entfremdeten Leben soll es Oasen der Sinnlichkeit geben? Da wittert auch der deutsch-französische Kleinsender arte Betrug und will mit einem Themenabend „gehörig an der Fassade scheinbarer Zufriedenheit“ rütteln: „Frauen reden über Sex“, heißt die erste Doku, „Männer reden über Sex“ die zweite – und der Themenabend nennt sich „Noch Lust auf Sex?“.

Zuerst also die Frauen: Sechs an der Zahl – aus Frankreich und Deutschland und zwischen 25 und 65 Jahre alt – berichten (ab 20.45 Uhr) vor Fabrice Gardels Kamera von ihren sexuellen Erfahrungen und Wünschen. Die intimen Berichte berühren Themen, die alle Welt aus Frauenzeitschriften kennt – etwa Lustlosigkeit nach der Geburt der Kinder oder Treue trotz sexueller Langeweile. Doch auch Orales und Anales sind für Henriette, Isabelle, Johanna, Michèle usw. ebenso wenig ein Tabu wie (jedenfalls für eine von ihnen) der Gang in den Swinger-Club. So richtig zufrieden wirken sie dennoch nicht – und sei es bloß, weil das Eingeständnis eigener Schwierigkeiten im Bett dem bequemen Klischee vom gefühl- und rücksichtslosen Mann zuwiderläuft. Nur die lockerste der Frauen gibt zu, sich notfalls selbst zu befriedigen.

Öffentliches Lamentieren über „Frust“ mit Männern

Nun gilt es seit Beginn der arg strapazierten Frauenbewegung vor etwa 20 Jahren als politisch korrekt, Frauen Gelegenheit zum öffentlichen Lamentieren über „Frust“ mit Männern zu geben. Die Medien zeigen unerschöpfliches Interesse an Berichten, in denen sich Frauen als Opfer männlicher Unterdrückung inszenieren – wie eh und je als schwache und schutzbedürftige Wesen also. Männer haben nach dieser Diskursregel in die Defensive zu gehen – und tun es oft ganz brav. Denn angreifen, erobern und erfolgreich sein – das sind Verhaltensweisen, die es zur Förderung der Gleichberechtigung am Männchen zu verachten, am Weibchen aber zu bewundern gilt. Die daraus resultierende Rollenunsicherheit hat auf beiden Seiten der Bettritze Ratlosigkeit, ja Resignation erzeugt.

Diesen Eindruck hinterlässt vor allem der zweite Beitrag, der über die Männer (ab 22.20 Uhr), in dem der finnische Filmautor Tuomas Sallinen Geschlechtsgenossen aus Helsinki, Berlin und Paris das Wort erteilt. Die Mehrzahl der Porträtierten blickt voller Zweifel auf ein „Problem zwischen den Beinen“, dessen Lösung eine lebenslange Herausforderung bedeutet – so die These des Filmemachers. Sein 52-jähriger Landsmann Arto gibt zu Protokoll, er trage „seinen Penis im Kopf“ und sei den sexuellen Erwartungen seiner Frau deshalb nicht gewachsen; ständige Selbstbeobachtung störe den ungehemmten Genuss der Lust. Noch deprimierendere Alltagsbilder schildert Rolf aus Deutschland: Dem Hausmann schneit spät am Abend eine beruflich erfolgreiche, aber sexuell lustlose Frau ins Schlafzimmer – ihm bleibe nur die Selbstbefriedigung, lautet die erschütternde Bilanz des aus feministischer Sicht vorbildlichen Rollentauschs. Im Lichte einer solchen (unter verkehrten Vorzeichen ja durchaus vertrauten) Tristesse verwundert es schon weniger, dass dem 57-jährigen Michael erst die Trennung von der Gattin die sexuelle Befreiung mittels häufig wechselnder Partnerinnen bescherte.

Wenn Sex problemlos wäre, gäb’s nichts zu diskutieren

Die freimütigen Erzählungen des Sex-Abends zeigen: Während das Eintrittsalter der Jugendlichen in die sexuell aktive Phase sinkt – heute 16-Jährige sind laut „Global Sex Survey“ des Kondomherstellers Durex in der Regel schon seit zwei Jahren dabei –, gibt die Elterngeneration ein zwiespältiges Vorbild ab. Hinter vordergründiger Selbstzufriedenheit verbirgt sich womöglich die Scheu, die Andersartigkeit des Partners zu entdecken, auf seine Wünsche einzugehen, auch wenn sie nicht voll mit den eigenen übereinstimmen sollten, und gleichzeitig die gemeinsame Experimentierfreude zu entwickeln.

Klingt das nach Bornemann? Mag sein. Aber wenn die körperliche Liebe problemlos abliefe, gäbe es nichts zu diskutieren. Frauenemanzipation ist ein Trend dieser Gesellschaft, Pornografisierung der Medien ein anderer, gegenläufiger. Über die Spielarten von Herrschaft und Unterwerfung, die die Beziehungen der Menschen bis in intime Bereiche hinein prägen, sprechen wir nach wie vor nicht gern.

Doch Sex sells – das weiß man auch in Strasbourg und Kehl. Die arte-Quote erigiert, sobald man Zuschauer in anderer Leute Schlafzimmer einlädt. Ein Blick auf die Wahl der „Abend“-Themen seit 1992 beweist, dass sich der Kulturkanal in den letzten vier Jahren immer häufiger mit Sexualität befasst hat. Die kommerzielle Fernsehkonkurrenz setzt im Kampf um Marktanteile seit Jahren auf abendliches Peep-TV: verlogene „Reportagen“ aus der Pornobranche, „Erotik“-Magazine und -Filme, garniert mit lächerlichen 0190-Spots für Telefongestöhne.

Arte sendet keine Wichsvorlagen. Die Integrität der Interviewpartner wird gewahrt und unsere Neugier befriedigt – Voyeure schalten ab. „Ich mag Analverkehr“: In einer Talkshow wird dieser Satz ausgeschlachtet, hier beschreibt er nur einen von vielen Wegen zum Glück.