: Jenseits-Blues
Romantischer Idealismus? Das ist nichts für Chaim, den Helden in Etgar Kerets’ „Pizzeria Kamikaze“
Chaim hat sich umgebracht und ist im Jenseits für Selbstmörder gelandet. Mit der Hölle oder dem Fegefeuer, wie man es sich gemeinhin vorstellt, hat das aber wenig zu tun. Eher handelt es sich um einem Ort, der unserem Diesseits verblüffend ähnelt. Die Leute haben teilweise ziemlich unappetitliche Wunden an den Handgelenken oder der Schläfe, ansonsten ist ihr Abgang aus der diesseitigen Welt aber eher bedeutungslos.
Langweile bestimmt den Alltag. Man sucht sich neue Freunde und arbeitet in mehr oder weniger öden Jobs. Ablenkung tut not, weil es insgesamt wenig zu tun gibt. So hängt man rum und denkt: „Jetzt könnte aber ruhig mal was Aufregendes passieren.“ Und weil auch die jenseitige Welt klein ist und man aus dem Blauen heraus alte Bekannte trifft, passiert dann manchmal tatsächlich etwas.
Der Schriftsteller Etgar Kerets kommt aus Israel. Seine zweite Veröffentlichung auf Deutsch ist ein unterhaltsamer Kurzroman zwischen Comicstrip und Roadmovie. Manchmal kommen die Ideen etwas zu platt daher, so etwa, wenn Chaim im Detail beschreibt, wie Kurt Cobain auch als Toter ein larmoyanter Langweiler ist.
„Pizzeria Kamikaze“ ist aber trotzdem unterhaltsam. Das Tempo, in dem dieser Slapstick voranschreitet, sorgt dafür, dass Tragik und Humor nebeneinander stehen, ohne einander aufzuheben. Große Gefühle bleiben unbeschadet stehen, gerade weil sie nur in Nebensätzen vorkommen. Ähnlich wie in dem 1996 erschienenen Kurzgeschichtenband „Gaza Blues“ schafft Kerets es, Alltägliches mit Surrealem zu verknüpfen und sich dabei einen sympathisierenden Blick auf alles Absurde zu bewahren. Auf lakonische Art verweist er auf vertrackte Zusammenhänge, ohne sie zu zerfleddern.
So erfährt Chaim eines Tages, dass sich seine Exfreundin kurz nach ihm umgebracht hat und sich demnach auch irgendwo in diesem Paralleluniversum herumtreibt. Er überredet Uzi, seinen zynischen Kumpel mit Einschussloch an der Schläfe, mit ihm auf die Suche nach Orga zu gehen. Der kann zwar mit Chaims romantischem Idealismus nicht viel anfangen, ist aber dankbar für jeden Anlass, der langweiligen Warteschleife, in der sie sich befinden, ein paar unvorhergesehene Kurven hinzuzufügen.
Sie machen sich auf den Weg, treffen einen selbst ernannten Guru, ein arabisches Selbstmordkommando und ein Mädchen, das angeblich irrtümlich hier ist. Am Ende ihrer Odyssee steht für (fast) alle so etwas wie ein Happy End; und auf die Frage, wie man dieser leicht depressiven, trotzdem aber ziemlich realen Welt entrinnen kann, gibt es undramatische Antworten.
In seiner Heimat Israel ist Kerets, das 1967 geborene Multitalent, eine Kultfigur bei der Jugend. Er unterrichtet an der Filmakademie, schreibt Kolumnen, zeichnet Comics und produziert Kurzfilme. Keret steht für einen neuen Blick auf die eigene Kultur, der sich in Form und Inhalt radikal von dem unterscheidet, was die Elterngeneration formuliert hat. In seinen Geschichten geht es um den absurden Alltag, in dem der Liebeskummer, der uns gerade plagt, genauso existenzbedrohend ist, wie es die großen politische Fragen sind.STEPHANIE GRIMM
Etgar Kerets: „Pizzeria Kamikaze“. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner. Luchterhand Verlag, München 2000, 100 Seiten, 19,80 DM
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