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Das antilinientreue Deutschlandbuch

Schwul sein, Kommunist sein, Schriftsteller sein: „legende“, dasnachgelassene Textmassiv des Westdissidenten R. M. Schernikau

von TOBIAS RAPP

Was wurde nicht schon alles über den großen Roman zur Wende spekuliert. Ein Ossi werde ihn schreiben, es werde eine große Erzählung sein, die Gründerzeit der Nachwende-Ära werde eine Renaissance des Erzählens einleiten. Zwar erschien er nicht, doch man tröstete sich, irgendwann werde er kommen, es müsse nur noch etwas Zeit ins Land gehen, damit die Erfahrungen sich setzen könnten. Nun ist das Buch da, und alles ist anders.

„die welt ist einfach. das ist furchtbar und schön. /2/ die götter wohnen in großen, hellen räumen. die götter sind freundlich. /3/ das ist ihr problem. weil die götter freundlich sind, müssen sie zurück auf die erde.“ So beginnt es, das große Epos über das Ende der DDR und Westberlins, und der Autor ist weder Ossi noch Wessi (dazu gleich), sondern Kommunist und schwul, der Roman ist keine einfache Erzählung, sondern eine riesige Montage, in der verschiedene Textformen wild durcheinander wuchern. Dass er erst jetzt erscheint, liegt nicht daran, dass der Autor so lange über die Wende nachdenken musste: Das Buch ist seit 1991 fertig; es fand sich nur kein Verlag, der es drucken wollte. Backsteinrot und 800 Seiten schwer liegt es jetzt vor, „legende“ von Ronald M. Schernikau.

Schon die Auswahl seiner Götter legt nahe, warum es neun Jahre dauern sollte, bis der Roman erscheinen konnte: Da kommen nicht etwa Bismarck, Willy Brandt und Rudi Dutschke auf die Erde zurück, sondern Klaus Mann, Ulrike Meinhof, Therese Giese und Max Reimann. Sie landen im Westberlin der Achtziger, auf der „insel“ umgeben vom „land“, in der „vergangenheit“ inmitten der „zukunft“.

Die Götter reisen also auf die Erde. Auf der Insel begegnen sie – unsichtbar für die Menschen – dem Schokoladenfabrikanten Anton Tattergreis und zahllosen Schokoladenarbeitern, kommunistischen Bezirksgruppen und einem besetzten Haus, einem berufsverbotenen Lehrer, einem fortschrittlichen Pfarrer, der liberalen Öffentlichkeit, widerlichen Kleinkindern, einem Vertreter für Werbefeuerzeuge, dem schönsten Mann der Welt. Sie geraten in schwule Wohngemeinschaften, die Verwirrungen des Osthandels, sie planen eine Entführung des „sozialen kanzlers“, um sie herum gibt es große Kämpfe um die Schließung eines Krankenhauses und zahllose Versuche, ein revolutionäres Subjekt zu finden, ein großes Festival „künstlerfürdenfrieden“ findet statt, und die Schlagersängerin Marianne Komenski erlebt ihr politisches Coming-out.

Zuletzt können die Götter den Untergang der Vergangenheit allerdings genausowenig aufhalten wie den der Zukunft, das Land und die Insel werden vernichtet, die Vergangenheit und die Zukunft versinken im Flammenmeer, wir kommen in der Gegenwart an. Eine Gegenwart, die nicht nur keine DDR mehr kennt, sondern auch keinen Ronald M. Schernikau. Er stirbt 1991, wenige Tage nach der Beendigung der „legende“ an den Folgen von Aids.

Auch Schernikau kann den Untergang der DDR nicht aufhalten, obwohl er alles in seiner Macht stehende daran setzt und noch im März 1990 vor dem letzten DDR-Schriftstellerkongress mit den Worten „Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, das der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt“ vor dem kapitalistischen Westdeutschland warnt. Dabei ist er selbst alles andere als linientreu. 1960 wird er in Magdeburg geboren, im Alter von sechs Jahren flieht er zusammen mit seiner Mutter in den Westen. Seine Mutter hat diese Flucht nicht aus politischen Gründen, sondern einem Mann zuliebe geplant; als sie im Westen aus dem Kofferraum des Autos steigen, eröffnet ihr ebenjener Mann, Ronalds Vater, er sei im Westen verheiratet. So geht Schernikau in Lehrte zur Schule, wird mit sechzehn Mitglied der DKP und schreibt noch als Schüler die Erzählung „Kleinstadtnovelle“ über ein schwules Coming-out in der Provinz, die Ende der Siebziger erscheint. Nach dem Abitur zieht er nach Westberlin, studiert dort Germanistik, Philosophie und Psychologie und tritt zur SEW über, der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins. Als Westdeutscher schafft er es, am Leipziger Institut für Literatur angenommen zu werden. 1986 geht er nach Leipzig und studiert dort. Sein Buch über diese Zeit, „die tage in l.“, wird jedoch von DDR-Verlagen als zu staatskritisch abgelehnt und muss im Westen erscheinen. Er beantragt die Staatsbürgerschaft der DDR, die er am 1. September 1989 bekommt, wenige Wochen vor Mauerfall.

Wie nur je ein Autor, der seine eigene Erfolglosigkeit in kein adäquates Verhältnis zu der Größe seines Entwurfs setzen will und dem gleichzeitig die Zeit davon läuft, setzt sich Schernikau in das Zentrum seines Buchs. Schwul sein, Kommunist sein, Schriftsteller sein. Ständig werden diese Themen umkreist, veralbert, als Fragen gestellt, versuchsweise beantwortet und wieder umgeworfen. Ständig schweift er von den Geschichten seiner Figuren ab, in fröhlichem Synkretismus vermischen sich Nebengeschichten, Einlagen, Bemerkungen, Zitate, Einschübe, Lieder, Ausschnitte, Erläuterungen zur Ästhetik und Geschichten von der Klappe. Das ganze Buch ist zusammengeschnitten aus Dialogen, Zeitungsüberschriften, Parodien, Witzen, Träumen, Interviews, Songtexten und inneren Monologen. Ähnlich wild schlägt sich die Sprache Hals über Kopf in die Büsche. Das ist ein Sound, als werde das Deutsche als Jive gesprochen. Schernikaus Schreiben ist auf der Flucht, Widersprüche droppt er im vielfachen Dutzend, oft überschlagen sich die kurzen Sätze. Schernikau sitzt im Mittelpunkt dieser Welt, türmt ihre verschiedenen Elemente aufeinander, setzt sich Masken auf und lässt die Erzählung aussetzen, um persönliche Mitteilungen an die Leser einzuschieben, „sie müssen bedenken, dass ich gezwungen war mein hauptwerk schon in meinen dreißigern zu liefern, wenn sie dieses buch lesen, bin ich berühmt, kunststück, aber jetzt! wenn sie dieses buch lesen bin ich schon lange tot.“

In Zuversicht auf den bleibenden Nachruhm ist die „legende“ trotz des scheinbaren Durcheinanders als großer Wurf angelegt. Wie die Bibel hat sie Bücher und Verse, nur eben eine Bibel, die mit der Albernheit eines schwulen Musicals aufgeführt wird, und die transvestitischen Verfremdungseffekte nutzt, als stamme die Inszenierung vom Bertolt Brecht. Noch die abgelegenste Passage ist ein kleines Lehrstück, die Personen treten nicht als Charaktere auf, sondern als Rollen, gesprochen wird in einer uneigentlichen Sprache. Hinter all dem Kuddelmuddel steht ein strenges ästhetisch-politisches Konzept: die bedingungslose Affirmation der Welt als Raum für Möglichkeiten.

Genau hier ist der politische Kern der „legende“, das, was sie eben nicht zu dem Wenderoman macht, auf den weiter gewartet werden muss. Die „legende“ ist ein Gegenentwurf zu jeder Art von Identitätspolitik. Alles ist in der Schwebe. Hier wird keine Nation geboren, sondern es werden Möglichkeiten beschrieben. Hier wird ein Epos erzählt, das nicht auf die Festschreibung des Bestehenden hinausläuft, sondern immer darauf besteht: Es kommt nie so, wie es kommen muss, es kann immer anders kommen, auch wenn es meist trotzdem so kommt, wie es kommen muss. Schernikau versucht, die Türen offen zu halten. „der kommunismus wird siegen werden“, heißt es am Schluss. „die götter verneigen sich vor den menschen.“

Ronald M. Schernikau: „legende“. Verlag ddp goldenbogen, Dresden 2000, 846 Seiten, 68 DM

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