cannes, cannes: Zivilisationsbemühen hebt die Moral: Shakespeare in der Wüste und Schiefertafeln in Kurdistan
KING LEAR LÖSCHT KENNERDURST
Wer in Cannes die eigene Mediatisierung einigermaßen beherrscht, kann mit relativ kleinem Aufwand ganz hübsche Erfolge verbuchen. Das blonde Model Adriana Karambeu zum Beispiel, Gattin des Real-Madrid-Spielers Christian Karambeu, stolzierte am Mittwoch im pinkfarbenen Wurstpellenkleid zum Eröffnungsabend von Cannes, vollführte für die Fotografen an der Galatreppe („Adriana, zieh' dich aus!“) ein paar halb obszöne, halb wohlig-räkelnde Bewegungen – und landete damit prompt auf der Titelseite der großen Regionalzeitung Nice-Matin.
Dieselben Fotografen entblödeten sich nicht, der jungen iranischen Regisseurin Samira Makhmalbaf beim Fototermin zuzurufen, sie solle doch ihr Kopftuch ablegen. Worauf sie, leicht verunsichert, auch noch die letzten Haarsträhnen unter den Schleier schob. Als gerade zwanzigjähriges „Küken“ dieses Festivals löst Makhmalbaf an der Croisette einen Rummel aus, der umgekehrt proportional zur geradezu altersweisen Gelassenheit ihres Films steht.
„Takkhté Siah“ („Die schwarze Tafel“, Foto) spielt im iranischen Kurdistan. Es ist ein politischer Film, weil er vom Alltag eines Exodus erzählt, von der Bevölkerung der kurdischen Dörfer, die auf der Flucht vor Soldaten durch die Berge irrt. Und zugleich eine heitere Reflexion über die Grundlagen der Zivilisation: das Wort und die Schrift. Am Anfang eine Gruppe von Männern, jeder trägt auf dem Rücken eine schwarze Schiefertafel. Es sind Lehrer, die ausschwärmen, um sich irgendwo in den Bergen unter den Flüchtlingen ihre Schüler zu suchen. Jeder kraxelt seines Weges, und das Bild dieser mit Kreide beschriebenen Tafeln, die sich durch eine staubige Gerölllandschaft bewegen, sagt alles über die Anstrengung, im Chaos einer heillosen Flucht trotz allem für so etwas wie Bildung zu kämpfen. In diesem Ausnahmezustand erleben die Tafeln ihre eigene Geschichte einer multifunktionalen Zweckentfremdung. Zerstückelt dienen sie zum Schienen eines Beins, als Sonnenschutz, Wand-Ersatz, Bahre für Verletzte und Mitgift für die Braut des Lehrers. Über all dem schwebt ein verhaltener Optimismus, und ganz nebenbei lernen die Kinder dieses archaischen Road-Movies dann doch das Einmaleins und sogar ihren Namen zu schreiben.
Dass eine gewisse zivilisatorische Anstrengung in katastrophalen Situationen durchaus die Moral heben kann, ist auch die Grundidee von Christian Levrings Film „The King is alive“ (in der Reihe „Un certain regard“). Ob man allerdings bei einer Autopanne im Nirgendwo der afrikanischen Wüste allen Ernstes auf die Idee kommen würde, als halb verdurstete Reisegruppe Shakespeares „King Lear“ aufzuführen, ist eine gewagte These. Immerhin machen bei diesem bildungsbürgerlichen Überlebenstraining Jennifer Jason Leigh und Romane Bohringer mit, die sich ein verzweifeltes Gefecht um die Rolle der Cordelia liefern, während um sie herum das Stück geprobt wird, Ehen zerbrechen, neue Freundschaften entstehen und sich langsam die Todesangst breit macht.
Levring gehört zu den Verfassern des Dogma-Manifests, weshalb er seinen Film ohne zusätzliches Licht mit einer Videokamera gedreht hat: Fast abstrakte Bilder der supergelben Dünen, der unwirklich grüne Reisebus und das klaustrophopische Aufeinanderhocken in der sandigen Weite – streckenweise wirkt „The king is alive“ wie der psychedelische Trip eines klassischen Genrefilms, der sich als elisabethanisches Drama halluziniert. Merke: Es gibt auf dieser Welt keine einzige Situation, für die sich nicht ein passendes Shakespeare-Zitat fände. Und – ob Wüstentrip oder Mittelmeerfestival – vielleicht sollte man tatsächlich immer eine kleine Reclam-Tragödie im Handgepäck haben. KATJA NICODEMUS
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