: Last Exit Marienhof
Aufschreiben, was nach Sendeschluss noch übrig bleibt: Auf dem Stückemarkt am Rande des 37. Berliner Theatertreffens suchen die jungen Dramatiker die Gegenwart und finden Reality-TV und Vorabendserien
Jedes Jahr gibt es am Rande des Theatertreffens in Berlin den Stückemarkt – einst ins Leben gerufen, um Nachwuchsdramatikern und ihren ungespielten Stücken ein Forum zu verschaffen. Das war zu Zeiten, als zeitgenössisches Theater noch von fünf Autoren bestritten wurde: von Franz Xaver Kroetz, Heiner Müller, Thomas Bernhard, Botho Strauß und William Shakespeare. Damals hatte man sich zu Recht gefragt, ob nicht irgendwo der Nachwuchs wartet.
Inzwischen gibt es im deutschen Theater keine heißere Ware als Nachwuchsdramatiker. Die Uraufführungstermine stehen manchmal schon, obwohl es die Texte noch gar nicht gibt. Der Stückemarkt könnte sich also ohne großes Risiko auf unbekannte Autoren stürzen, neue Stücke und neue Namen präsentieren. Stattdessen finden sich hier Jahr für Jahr die immer gleichen Autoren mit ihrer neuen dramatischen Kollektion zum Schaulaufen der Jungstars ein. Albert Ostermaier kam schon zum fünften Mal. Moritz Rinke war schon zweimal hier, Steffen Kopetzky mindestens einmal.
Wer zum ersten Mal kam, hatte wenigstens schon einen hoch dotierten Preis in der Tasche – samt Uraufführungstermin: Heiko Buhr zum Beispiel, der den Heinz Dürr-Preis gewann. Sein Stück „Ausstand“ soll in der nächsten Spielzeit am Deutschen Theater in Berlin gespielt werden. Oder David Gieselmann, dessen „Herr Kolpert“ im Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt wird.
Friedrich-Karl Praetorius schließlich, ein bekannter Theater- und Fernsehschauspieler, hatte ein Stück geschrieben, das den Namen „Wildgruber“ im Titel führte. Und da muss es Stückemarktleiter Klaus Völker sofort die Tränen in die Augen getrieben haben, dass er gar nicht weiterlesen konnte, das Stück aber trotzdem einlud: eine wilde Mischung aus Schwulst, Klamauk und politisch korrekter Erregung.
Im Programmheft des Theatertreffens ein Beitrag Klaus Völkers mit den üblichen zivilisationskritischen Tiraden, die gar nichts über die Gegenwart aussagen, außer dass es ziemlich schlecht um sie steht und die Schuldigen wohl in den Redaktionen von RTL 2 und Sat.1 sitzen. Nur macht das Theater die Gegewart auch nicht besser, wenn seine Stücke aus dem Fernsehen abgeschrieben sind und ihre visionäre Kraft irgendwo bei null liegt. Albert Ostermaiers Flughafenpanorama „Letzter Aufruf“ zum Beispiel, eine Mischung aus Tagesschau und RTL-Thriller, mit Figuren, denen man auch in „Marienhof“ begegnen kann: DJs, Koksdealer und andere coole Hoffnungslosigkeitsträger mit soap-kompatiblen Gewaltfantasien.
„Ist der ausufernden Theatralisierung des alltäglichen Lebens nur noch mit hemmungsloser Mitmachermentalität zu begegnen?“, fragt Klaus Völker im Programmheft – vermutlich mit Blick auf „Big Brother“. Es würde ja schon reichen, denkt man dann, dies Leben einfach auf die Bühne zu bringen und nicht bloß das, was nach dem Fernsehen davon noch übrig ist. Und wenn alle dann hemmungslos mitmachen, sind die Theater voll. In Moritz Rinkes „Republik Vineta“ planen fünf Männer ein Freizeitlaboratorium. Höhepunkt soll der Themenpark „Die untergegangenen Träume“ werden. Russland schickt schon eine Leninstatue dafür und Frankreich die Guillotine. Diese Freizeitplaner hat man alle auch schon in irgendwelchen Talkshows über Projekte fabulieren hören, und Rinke hat ihnen genau zugehört. Aber dann hat er eben doch mit zärtlicher Ironie Theaterfiguren aus ihnen gemacht. Man könnte sein Stück fast lieben. ESTHER SLEVOGT
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