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Wunderkinder

Es gibt sie, die hoch begabten Kinder. Doch die gängigen Intelligenztests sind gänzlich ungeeignet, die kleinen Genies auch zu entdecken

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Curie, Einstein, Picasso, Mozart – waren sie alle hoch begabt? Offenbar gibt es sie doch, die Hochbegabten. Ihren Altersgenossen weit voraus, ernten sie in der Kindheit Bewunderung, manchmal jedoch auch Spott und fehlendes Verständnis – obwohl sie genauso wie die anderen Kinder ein Recht auf Förderung haben. Kann man ein hoch begabtes Kind überhaupt erkennen? Und wenn ja, wie fördert man es am besten?

Seit Jahrhunderten versucht man herauszufinden, was Hochbegabung ist. Im 19. Jahrhundert entwickelte Sir Francis Galton die ersten Intelligenztests – die Testpersonen sollten unter anderem das Gewicht von Gewehrpatronen schätzen oder die Düfte von Rosenblüten unterscheiden. Wie zu erwarten, erwiesen sich Galtons Tests als höchst unzuverlässig: Die Ergebnisse stimmten weder mit den Schulleistungen noch mit sonstigen Erfolgen oder Misserfolgen im Leben überein.

Eine bessere Übereinstimmung schienen die Prüfverfahren von Alfred Binet zu haben, aus denen sich schließlich die heutigen Intelligenztests entwickelten. In ihnen soll man Zahlenfolgen ergänzen, Wörter mit demselben Anfangsbuchstaben aufzählen, Bildpaare erkennen und Ähnliches mehr.

Der gemessene Intelligenzquotient (IQ) gilt als wichtiger Indikator des Denkvermögens. Durchschnitt ist ein IQ von 100, und wer über einen IQ von 125 verfügt, gehört zu einer oberen Elite von 5 Prozent. Aber lässt sich Intelligenz so einfach in Zahlen ausdrücken? Im Laufe der Jahre hat der Intelligenzquotient eine äußerst wechselhafte Beliebtheit erfahren. Schwere Einbußen erlitt seine Popularität 1981 durch Stephen Jay Goulds „Der falsch vermessene Mensch“. Darin stellt der Wissenschaftler fest, dass es unmöglich sei, „Intelligenz auf eine einzige messbare Wesenheit zurückzuführen“.

Ist Intelligenz unabhängig von Kreativität und Einfühlungsvermögen? „Ganz und gar nicht“, behauptet Robert J. Sternberger, von der Yale-Universität im US-Bundesstaat Connecticut. IQ-Tests ermitteln zwar logische und sprachliche Fähigkeiten, nicht aber andere wie beispielsweise Intuition oder praktisches Können – doch auch diese Fähigkeiten entscheiden mit über ein erfolgreiches Leben. Außerdem hängen die Ergebnisse von IQ-Tests von kulturellen Einflüssen ab. So ordnet das westafrikanische Volk der Kpelle Begriffe nach ihrer Funktion – etwa Banane und Essen, während wir Abendländer und damit unsere IQ-Tests eine Einteilung nach Arten verlangen – etwa Banane und Pfirsich.

Auch Howard Gardner, von der Cambridge-Universität Massachussetts, ist überzeugt, dass sich nicht alle Fähigkeiten eines Menschen zu einer simplen Zahl zusammenfassen lassen. Es gibt vielerlei Arten von Begabungen – sprachliche, logisch-mathematische, musikalische und andere, und jeder Mensch hat besondere Talente. Niemand versagt überall und keiner kann alles. Gibt es sogar so etwas wie emotionale Intelligenz – wie im Bestseller von Daniel Goleman vermutet wird? „So etwas gibt es sicherlich“, meint Gardner. „Es befähigt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Aber daraus darf man nicht – wie Goleman es getan hat – ein Wertesystem ableiten. Einfühlungsvermögen ist nicht dasselbe wie die Entscheidung, anderen zur Hilfe zu kommen.“

Geistige Fähigkeiten haben eine erbliche Grundlage. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, sagt der Volksmund. Deshalb sind der Förderung sprachlicher oder mathematischer Fähigkeiten gewisse Grenzen gesetzt. „Egal, wie gut die Förderung auch sein mag, manche Kinder schaffen eben das Gymnasium nicht“, meint Ernst Hany, Pädagogische Hochschule Erfurt. „Andere Kinder brauchen dagegen kaum Hilfe, sie lernen spielend und mit Freude. In vielen Fällen haben Kinder ihr Talent in den Bereichen, in denen auch ihre Eltern Erfolg haben.“

Bis heute weiß man nicht, über wie viel angeborene Intelligenz ein Mensch bereits bei seiner Geburt verfügt und wie viel Intelligenz er in mehr oder weniger günstigen Lebensumständen hinzugewinnen kann. Mitte der Neunzigerjahre löste „The Bell Curve“ von Richard J. Hernstein und Charles Murray einen Sturm der Entrüstung aus. Die Autoren behaupteten, dass die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft bevorstehe – in eine wohlhabende, intelligente Elite und in eine Unterschicht mit niedrigem IQ. Ob man oben oder unten sei, intelligent oder dumm, bestimmten fast ausschließlich die Gene. Insbesondere die Schwarzen würden – für immer – der Unterschicht angehören, so Hernsteins und Murrays These, denn diese Gruppe sei aus „sehr wahrscheinlich“ genetischen Gründen kognitiv benachteiligt.

Mittlerweile haben Kritiker die Daten des Buchs noch einmal untersucht. Nach ihrem Urteil wurden die schärfsten Behauptungen des Buchs zum großen Teil relativiert oder glatt widerlegt. Halten Hernstein und Murray einen Erblichkeitsanteil von 60 Prozent für wahrscheinlich und sogar 80 Prozent für möglich, kommen die Statistiker und Genetiker Michael Daniels, Bernie Devlin und Kathryn Roeder in ihrem Buch „Intelligence, Genes und Success“ auf 48 Prozent. Christopher Winship, Harvard-Universität, und Korenman, Princeton-Universität, sind zwar von einem Einfluss des IQ auf den Lebenserfolg überzeugt. Doch habe der familiäre Hintergrund eine ähnliche Bedeutung, wenn man den Einfluss der Erziehung herausrechne. Der IQ sei „nicht die alles überragende Bestimmungsgröße“.

Überdurchschnittliche Leistungen setzen angeborene geistige Fähigkeiten voraus. Aber die Gene sind nicht immer entscheidend. Werden frühzeitig Interessen gefördert, hat das Kind vielerlei Hobbys und wird von verständnisvollen Lehrern unterstützt, so sind diese Dinge genauso wichtig wie ein hoher IQ – oder sogar wichtiger. Oft sind Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen für ein erfolgreiches Leben notwendig. Viele nur mittelmäßig Begabte haben Karriere gemacht. Zudem verlaufen Entwicklungen nicht immer gleichmäßig. Die Entwicklungspsychologie hat gezeigt, dass sich viele Talente oft gar nicht früh zeigen – mehrere Nobelpreisträger sind als Kinder mittelmäßig gewesen. Man kann einem kleinen Kind nicht ansehen, ob aus ihm ein Star oder ein Versager wird.

Umgekehrt fallen zahlreiche Wunderkinder als Erwachsene auf ein Mittelmaß zurück. Manche machen aus wenig viel, andere lassen ihre Talente ungenutzt. Intelligenztests können bei der Berufswahl hilfreich sein oder bei der Entscheidung, ob ein Kind frühzeitig eingeschult werden oder eine Klasse überspringen kann. Wie Ernst Hany feststellt, haben sie jedoch „für den späteren Erfolg im Leben nur eine geringere Aussagekraft“.

Manche Begabte sind sozial isoliert, von der Schule gelangweilt und entwickeln Verhaltensauffälligkeiten. Aber das ist eher die Ausnahme und keinesfalls ein Erkennungsmerkmal Übertalentierter. Hoch begabte Kinder können sich zwar unterfordert fühlen oder besonders sensibel sein, sind aber nicht unbedingt anfällig für Entwicklungsstörungen.

Es gibt kein Patentrezept, um Begabungen zu erkennen. Hat man dennoch ein Talent entdeckt, stellt sich die Frage, wie man es am besten fördert.

Sehr wichtig ist es, dem Kind vielfältige Anregungen in unterschiedlichen Bereichen zu geben – Bücher, Erfahrungen in der Natur und praktische Tätigkeiten. „Anregendes Material mit abgestuftem Schwierigkeitsgrad lässt erkennen, wie schnell Kinder lernen und ob sie Spaß auf einem bestimmten Gebiet haben. Auf diese Weise offenbaren sich Talente von selbst“, sagt Ernst Hany. „Es gibt keine Methode, die man einfach auf alle Kinder anwenden kann. Jedes Kind geht seinen eigenen Weg und braucht individuelle Unterstützung. In jedem Fall sollte man die Persönlichkeit des Kindes fördern. Ein Kind muss sich selbst etwas zutrauen, sorgfältig und konzentriert arbeiten und zwischen Arbeit und Pause abwechseln können.“

Das Enrichment-Triad-Modell, das Joseph Renzulli in den USA mit Erfolg praktiziert, fördert Begabung auf ähnliche Weise: Ein Kind muss vielfältige Anregungen bekommen, und man sollte ihm die Grundtechniken selbständigen Arbeitens vermitteln: Das Kind soll sich im Lesen üben, es soll die Möglichkeit haben, Dinge, die es interessant findet, zu sammeln oder in einem Heft etwas über sie aufzuschreiben. Ausdauer ist wichtig, und das Kind erlernt sie, indem es längerfristige „Projekte“ durchführt, also sich mit einem „Wissensgebiet“ eine Zeit lang intensiv und zielstrebig beschäftigt.

Auf einem Symposium zur Internationalität der Forschung fasste Hubert Markl, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, die wichtigsten Prinzipien der Begabtenförderung zusammen – die frühzeitige Förderung möglichst vieler junger Menschen ohne jede soziale oder andere Vorauswahl, die Vielfalt an intellektuellen und praktischen Anregungen und das Setzen anspruchsvoller Ziele. Nur auf diese Weise scheint Begabtenförderung möglich zu sein – Medikamente sind wirkungslos: Für die allermeisten Präparate ist der klinische Nutzen nicht bewiesen. Zum Beispiel nützt das beliebte Pflanzenpräparat Gingko biloba einer Studie zufolge zwar Alzheimer-Patienten ein wenig, aber bei gesunden Menschen konnte nicht eindeutig eine gedächtnisfördernde Wirkung gezeigt werden. Für künftige Präparate erprobt man unter anderem modifiziertes Östrogen und körpereigene Nervenwachstumsfaktoren; doch die beste Medizin ist möglicherweise ganz gewöhnlicher Traubenzucker, der Energielieferant für alle Zellen – auch die Gehirnzellen.

Es erscheint zwar seltsam, aber es gibt auch lernbehinderte Hochbegabte. Es gibt hoch begabte Leistungsverweigerer mit schlechten Schulnoten, und es gibt hoch begabte Legastheniker. Thomas Alva Edison, ein erfolgreicher Erfinder mit 1.903 Patenten, vom Vorläufer des Fotoapparates bis zur Glühlampe, hatte Lernprobleme im sprachlichen Bereich – wahrscheinlich war er Legastheniker. Begabungsprofile können sehr unausgeglichen sein, und die Eltern sollten ihr Kind genau beobachten. Auch ein sehr begabtes Kind kann eine Schwäche haben und ein schwach begabtes Kind ein besonderes Talent. Oft setzt sich eine gute Erbanlage durch – möglicherweise aber anders als erwartet.

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