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Karneval in der Sicherheitszone

Was aus der Eroberung Palästinas wird, hat Zeit. Heute wird gefeiert. Schiitische Milizen und zurückgekehrte Einwohner bejubeln Israels Abzug

Aus dem Südlibanon JOE WEISS

Eine Gruppe johlender Jugendlicher mit Flaggen der Hizbullah steht am Grenzzaun in Kfar Kila einem israelischen Soldaten gegenüber, der ein Fernsehteam beschützt. Hinter dem Stacheldrahtverhau liegen die geometrisch angelegten Straßen und Häuser einer israelischen Siedlung gespenstisch leer vor der Menge. Hundert Meter weiter brennt der BMW eines „Kollaborateurs“, eines Libanesen, der mit Israel zusammengearbeitet haben soll. Trommeln begleiten eine Gruppe von Tänzern.

Ramih, der mit seinen Freunden in einem Hisbullah-beflaggten Minibus aus Saida gekommen ist, hat zum ersten Mal im Leben das Haus seiner Eltern in Yarine bei Nakura gesehen: „Nur noch ein Haufen Trümmer. Aber wir bauen es wieder auf.“ Und die Befreiung Palästinas, das nun zum Greifen nah vor ihm liegt? „Was mit dem Widerstand wird, entscheidet die Partei. Heute Nacht wird gefeiert.“

Eine israelische Journalistin erscheint jenseits des Grenzzauns, Fragen und Antworten auf Englisch werden hin und her gerufen, bis schließlich Steine fliegen. Ende des Dialogs.

In Nakura, im Hauptquartier der Unifil, der UN-Friedenstruppe, vermittelt Sprecher Timur Göksel hingegen gerade zwischen den bisherigen Kriegsparteien: Ein israelischer Offizier am Grenzposten Kfar Kila unweit der israelischen Siedlung Kirjat Shmona berichtet besorgt von Hisbullah-Anhängern, die am Zaun mit automatischen Waffen in die Luft schießen. „Damit müsst ihr leben“, versucht Göksel zu besänftigen, „die Jungs haben euch 15 Jahre bekämpft, lasst sie feiern.“ – „Ein echter Fortschritt“, kommentiert er dann, „vor zwei Wochen hätten die Israelis sofort das Feuer eröffnet. Jetzt konsultieren sie uns.“

In Rmeish, einem christlichen Dorf östlich von Nakura, mischt sich Skepsis mit Verzweiflung. „Über die Hälfte der Leute sind nach Israel geflohen, mein Bruder auch“, berichtet eine Einwohnerin, den Tränen nahe, „was sollten wir denn machen? 25 Jahre lang hat man uns im Stich gelassen. Erst haben uns die palästinensischen Guerillas terrorisiert, und dann hat uns die Besatzung vom Rest des Landes abgeschnitten. Es gab keine Jobs außer bei der SLA oder in Israel.“ Übergriffe der Hisbullah habe es nicht gegeben: „Sie sind gekommen und haben präzise Fragen nach Leuten gestellt, die größtenteils schon weg waren. Vor denen haben wir weniger Angst als vor denen da draußen“, meint sie und deutet auf die Wagen, die mit Flaggen der Hisbullah und der ebenfalls schiitischen Amal-Miliz durch die Straßen rasen.

Bint Jbeil hingegen liegt im Hisbullah-Land. Kämpfer und solche, die es sein wollen, rasseln in eroberten Panzerfahrzeugen durch die Straßen. Auch hier seien jede Menge Leute „abgeholt“ und den Behörden übergeben worden, berichtet Habib Shami, der erst vor drei Wochen aus den USA in den Libanon zurückgekehrt ist. „Sehen Sie die Apotheke dort? Der Kerl hat sofort Hisbullah-Plakate rausgehängt, aber jeder wusste, daß er für die Israelis gearbeitet hat, und die SLA hat in den Baracken Listen mit den Namen von Informanten zurückgelassen.“ – „Geschieht ihm recht“, meint die junge Sukaina, die durch die Straßen streift und den Karneval auf Video aufnimmt, „kaum hast du laut Allah gesagt, warst du schon verhaftet.“

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