piwik no script img

Noch ist nichts verloren

Deutscher Fußball als Traum: Die schwarzrotgoldenen Reflexe fehlen. Ribbeck hält eine Ruckrede. Selbst Holländer loben die „nieuwen Supermoffen“. Als die auffällig bescheidene DFB-Elf ausscheidet, erfährt sie Respekt und Hochachtung. Und wird fast schon geliebt

von BERND MÜLLENDER

Der Rhythmus hämmert und wummert. Bassig, bissig, fordernd. Vor mir taucht eine weite Bühne auf, Nebelschwaden, fahles Licht, geheimnisumwölkt, unwirklich. Zwei Dutzend grimmer Gestalten vor zwei Dutzend fußballgroßen Mikrofonen. Die Melodie merkwürdig freundlich, einschmeicheld fast. Dann aber dieser Refrain, eingeleitet von einem aufheulenden Keyboard-Fortissimo; kompromisslos, mehr gebrüllt als gesungen, sehr böse, aggressiv:

„Wir verteidigen den Titel und wählen jedes Mittel. Wir fahren zu den Fritten wohl in des Hollands Mitten. Deutschland vor-vor-vor! und Tor-Tor-Tooooor ...“

Abrupt wurde ich wach. Ich schwitzte. Ob das an der Hitze lag? Oder doch am giftigen Text? Was war das für ein Chor, von dem ich horrorgeträumt hatte? Klar, da war doch Lothar Matthäus aus dem halligen Gestammel zu hören gewesen, oder? – das klang doch wie Diddel statt Titel. Und diese nassgeschwitzte Figur mit der wilden Mähne, die da veitstanzte wie ein Springteufel – ja: Jens Jeremies. Und war da nicht Erich Ribbecks graue Mähne zuckend in der Dirigentensilhouette zu sehen gewesen – zwar lang gewachsen und zerzaust, aber doch erkennbar? Und der Organist oben, der die Tasten verprügelte wie ein tobender Keith Emerson zu wüstesten Nice-Zeiten – das war doch Egidius Braun, der DFB-Präsident und Hobby-Klavierspieler!

Die deutsche Nationalmannschaft singt sich zur EM. Ich selbstdiagnostizierte Wahnvorstellungen. Welch ein Alptraum. Die Fratze des deutschen Fußballs, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen, hatte sich zu einem Horrorsong verdichtet, verfremdet. Früher hatten singsangelnde deutsche Kicker harmloses Zeug von sich gegeben: Mexiko, olé ... Wir fahr’n übern Brenner ... Dann macht es bumm ... Und jetzt das!

Ich rauchte eine Zigarette. Das soll ja beruhigen. Ich öffnete das Fenster. Wohlige Kühle verteilte sich im Raum. Übermüdet döste ich wieder ein. Der Traum ging weiter. Aber plötzlich war er anders, ganz anders: Keine mysteriöse Band, gar keine Musik mehr. Meditative Ruhe, angenehme Duftschwaden. Ich las Zeitungen. Es war der Tag nach dem ersten EM-Spiel gegen Rumänien. „Hagissimo“ schlagzeilte Bild wuchtig, mit der Unterzeile, wenn ich sie im Traum richtig entzifferte: „Hatschi Deutschland – welch verschnupfter EM-Start“. Gheorghe Hagi, der große rumänische Ballkünstler, hatte allein vier der fünf Tore gegen die Deutschen geschossen, eines grandioser als das andere. Komischerweise wunderte ich mich im Traum nicht, dass Bild das so toll fand. Was war los in Fußball-Deutschland?

1:5 war das Spiel in Lüttich ausgegangen. „Erfrischend mutig“ hätten die Deutschen gespielt, lobte die FAZ, und gegen diesen Weltklassegegner sogar mehrere Torchancen gehabt. Die Münchner Abendzeitung schlug vor, Torwart Oliver Kahn, „unseren Super-Oli“, lieber „zu adeln statt zu tadeln“, weil er weitere Tore der Rumänen im Dutzend verhindert hatte.

Schon im Traum kam mir der Traum wie ein komischer Traum vor. So unwirklich: nirgendwo Entsetzen, nirgendwo Häme, nirgendwo Rücktrittsforderungen von mindestens allen. Waren alle gelähmt? Wo blieben die schwarzrotgoldenen Reflexe? Dann höre ich Teamchef Erich Ribbeck im Fernsehen sprechen: „Wir haben alles gegeben. Wir sind hier schließlich nur Außenseiter und wollen lernen. Auch gegen die Fußballmacht Rumänien.“ Alle lauschten ergriffen. „Die Zeiten, als der deutsche Fußball das Maß aller Dinge war, sind vorbei. Früher waren wir schlecht und haben gewonnen. Heute geben wir uns Mühe, und verlieren halt auch mal. Das müssen wir alle zu akzeptieren lernen ...“ Dann hatte Ribbeck tief Luft geholt: „Fußball ist eben ein Spiel für 22 Leute, und am Ende ist Deutschland froh, dass es mitspielen durfte.“

Mein Gott, welche Weisheiten! Ich hatte im Traum eine Art Endlosvideorekorder, der mir meinen Ribbeck immer wieder vorspielte, vor allem den letzten Satz, der sich zu einem halligen Sprechkanon zusammenbraute. „Herbergerhaft, herbergerhaft“, flüsterte irgendwer dazwischen. War das Herberger selbst, der da sprach? „Fast schon selbstironisch, Herr Herberger, oder?“, rief ich im Traum. Eine Antwort kam nicht, nur Ribbeck redete wieder von vorne los. Gut, dass mein Endlosvideo keine Stopptaste hatte.

Ja, jetzt war er wirklich Sir Erich und spielte seine Stärken aus. Niemand hatte gelacht. Ein paar Journalisten auf der Pressekonferenz hatten sogar spontan geklatscht. Und Ribbeck hinzugefügt: „Wir bleiben bei unserer Bescheidenheit, das ist unsere neue deutsche Tugend.“ Der Satz wurde vom Tagesthemen-Kommentator als „Kernsequenz einer neuen Ruckrede“ bezeichnet.

Bescheidenheit! Der DFB be-schei-den! Der deutsche Fußball be-schei-den! Die Fans be-schei-den! Alle be-schei-den und genügsam, relaxt, locker. Im Traum hatte ich beim Wort Bescheidenheit vor Schreck die Kaffeetasse umgestoßen. Neue deutsche Bescheidenheit! Wenn man sich im Traum die Fortsetzung eines Traumes wünschen kann, dann doch jetzt!

Und er ging tatsächlich nahtlos weiter: Ich war rausgegangen, auf die Straße. Die Menschen verhielten sich am Tag nach dem 1:5 wie immer. Kein Missmut, kein nationales Drama. Sie nahmen es mit Gelassenheit. „Ach, wenn wir auch so tolle Fußballer wie die Rumänen hätten“, stöhnte einer und es klang gar nicht neidisch. Auf dem Bolzplatz kickten zwei Rotzjungs: „Ich bin Hagi“ – „Nein ich, nein ich“, riefen sie mit kieksigen Stimmen. „Beim nächsten Spiel“, meinte der eine, „bin ich der Teddy. Teddy Sheringham“ – „Der spielt doch gar nicht mehr.“ – „Egal“, sagte der ältere, „immer noch besser als Biersten und Kirhoff oder wie die heißen ...“ – „Ich bin Beckham“ – „Ich bin Owen“ ...

Das zweite Spiel war gegen England. Welch historische Spiele hatte man miteinander schon ausgefochten, früher. Und die Deutschen hatten nach dem historischen 3:1 in Wembley 1972 mehrfach gewonnen bei großen Turnieren, zwei Mal im unverschämt glücklichen Elfmeterschießen. Diesmal ging es 1:1 aus. Die deutschen Hooligans hatten die englischen gebeten, ihnen nichts zu tun. Und die englischen die deutschen. Daraus wurde, hieß es später, der historische Friede von Charleroi. „Besser keine Ausschreitungen und kein Sieg, als umgekehrt“, predigte Egidius Braun. Es klang kompliziert, aber glaubwürdig.

Auf deutschen Marktplätzen versammelten sich tausende zu spontanen Jubelfeiern. Unentschieden gegen des Fußballs Mutterland! Jetzt gab es sogar noch eine kleine Chance, das Viertelfinale zu erreichen, bei einem klaren Sieg im letzten Gruppenspiel gegen Portugal. Jeder wusste, dass das fast unmöglich war. Die großen Portugiesen! Figo! Pinto! Erich Ribbeck bat in seiner charmanten Art alle Fans, die Spieler nicht unter Druck zu setzen. „Aber ich lade alle ein, ehrlich mitzuhoffen.“ In den Zeitungen stand traumhaft sicher formuliert: „Jetzt dürfen wir träumen.“ Fußball, sagte ich im Traum zu meinem Freund Joachim, „ist viel schöner geworden.“ „Ja“, hatte er glücklich geantwortet, „das ist wohl wirklich Traumfußball.“

Das Spiel gegen Portugal war „ein ehrenvolles Match“, wie nachher Bundeskanzler Schröder bemerkte. Mit Hingabe hatte sich die deutsche Elf gegen die Niederlage gewehrt. 3:4 hieß es am Ende, aber selbst die Portugiesen mussten zugeben, dass das Ergebnis fast schon glücklich war. „Das schönste Ausscheiden in der Geschichte des deutschen Fußballs: mit Sportsmannsgeist, offensiv und vorbildhaft fair für die Jugend“, schrieb der Doyen der Fußballanalyse, Karl-Heinz Heimann, im scheinwerferdurchfluteten Kicker.

Im Radio hieß es, die abendliche Stimmung im Hotel Vaalsbroek, dem Mannschaftsquartier der Deutschen, sei „besinnlich bis ausgelassen“ gewesen: „Wir werden erhobenen Hauptes den kurzen Weg nach Hause fahren“, sagte Erich Ribbeck mit einem glänzenden Schimmer in den Augen. Ribbeck wurde Ehrenhonorarteamchef magna cum laude. Uli Stielike bekam – live übertragen – von Bundespräsident Rau den Ehrentitel „James Bond des Fußballs“ für seine spionösen Spielebeobachtungen anderer Elfen, „die manches Gegentor verhindert haben“, wie Rau launig bemerkte. Überwältigt gab Stielike eine Runde Bessengenever: „Lecker. Das Bier im Land von Rudi Carrell ist besser als sein Ruf.“ Horst Hrubesch, der erfolgreiche Assistenztrainer, sagte lächelnd: „Ich sag mal, es war mal. Jetzt bleibt nur noch ein Wort: Vielen Dank.“

Der Traum hörte nicht mehr auf. Warum besuchen mich diese Figuren so permanent in meinem Schlaf? Weil man sich so sehr damit beschäftigt, im wachen Teil des Lebens? Viel zu sehr damit beschäftigt? Ich sah die Heimkehr der geschlagenen Helden am nächsten Tag. Am nahen Grenzübergang bei Aachen jubelten tausende der deutschen Mannschaft zu. „Willkommen zu Hause, Freunde.“

Der Begriff „deutsche Panzer“ war nur einmal in einer englischen Boulevardzeitung aufgetaucht, aber der Chefredakteur hatte sich sofort beim deutschen Botschafter entschuldigt. In Amsterdam sollen sogar niederländische Fans ein Lied zu Ehren der „nieuwen Supermoffen“ angestimmt haben. „Das ist das Neue Deutschland“, schrieb das Neue Deutschland.

Als im Traum das Endspiel Holland – Frankreich angepfiffen wurde, trällerte ganz unbescheiden der Wecker. Heute, wusste ich gleich, würde das Turnier losgehen. Wie wohl mit dem neuen Fußballdenken in Wirklichkeit umgegangen wird, dachte ich verschlafen. Beim ersten Schluck Kaffee wusste ich es: „Kommando Titelverteidigung“, schrieben die Zeitungen, und dass „noch nichts verloren“ sei. „Deutsche Tugenden“ blieben „immer deutsch und immer eine Tugend“ und seien sowieso „ein Wert für die Ewigkeit“.

Da hatte doch Bild 1998 vor dem WM-Spiel gegen Jugoslawien geschrieben: „Witscht sie weg!“ (weil die Gegnernamen meist auf -vić endeten). Jetzt hieß es: „Knallt die Rumänen zurück in die Karpaten“ und „Hatschi zu Matschi“ und „Kreuzigt die transsylvanischen Vampire, mitten ins Herz!“ (was indes eine Rüge des Presserates einbrachte).

Hatte ich ihn nur geträumt, den Traum? Unten vor dem Haus zog eine Gruppe Fans Richtung Bahnhof und skandierte: „Wir sind keine Fußballfans, wir sind deutsche Hooligans.“ Bässe schummerten plötzlich durchs Haus. Mein Nachbar, der Nationalhool, hatte das Radio aufgedreht. Das Lied klang wie „Wir verteidigen den Titel und wählen jedes Mittel ...“

BERND MÜLLENDER, 43, arbeitet in der Leibesübungs-Redaktion der taz und wird seine Traumfantasien als EM-Reporter vor Ort überprüfen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen