: Stahlarbeiter liebt Operndiva
New York im Jazzfestivalfieber: Die Knitting Factory expandiert nach Hollywood und demnächst auch Berlin, und Elvis Costello spielt in der ersten Rockoper seines Keyboarders einen Alkoholiker mit getönter Brille und Oberlippenbart
In der Chefetage der Knitting Factory herrscht Feierstimmung. Anfang Juni eröffnete der aufstrebende Avantgardemulti eine Dependance in Hollywood, und auch ein Clubableger in Berlin ist in der Planung. Am vergangenen Pfingstwochenende endete das bislang größte und erfolgreichste Festival in der dreizehnjährigen Geschichte dieser New Yorker Institution, der einst ein John Lurie und John Zorn in der damals noch schmuddeligen Downtown ein hippes Publikum sicherten.
Im Anschluss an das nach dem Hauptsponsor benannte Bell Atlantic Festival begann gestern das New Yorker JVC-Jazzfestival, das an weiteren elf Tagen prominente Orte wie die Carnegie Hall inmitten Manhattans bespielt. Schon vor Jahren war der Juni vom New Yorker Bürgermeister offiziell zum Jazzmonat deklariert worden.
Die Programme beider Festivals vermeiden Überschneidungen. Aber: Einstige Zuordnungen funktionieren nicht mehr. John Zorn tritt am Dienstag nächster Woche im Rahmen des sonst eher als konservativ eingestuften und auf Mainstream abonnierten JVC-Festivals auf, Chick Coreas aktuelle Band Origin dagegen, im vergangenen Sommer noch einer der Mainacts von JVC, trat heuer am Abschlusstag des Knitting-Factory-Festivals in der Town Hall auf.
Auch in den Clubs und anderen Spielorten, an denen das offizielle Festivalprogramm ergänzt wird, scheinen sich Gegensätze anzuziehen. Im Blue Note irritierte der spannendste Jazzsaxofonist seiner Generation, der 31-jährige James Carter, ein gut betuchtes Nightclub-Publikum. In der ausverkauften Avery Fisher Hall, wo sonst die New Yorker Philharmoniker spielen, führte George Benson mit großem Streichorchester seinen extrem flauschigen Jazz auf. Benson rekrutiert seine Anhängerschaft vor allem unter afroamerikanischen Anwälten und Steuerberatern um die 45, die hier völlig aus dem Häuschen gerieten. In die Knitting Factory zog es zu Karl Denson’s Tiny Universe und seinen Soul-Grooves derweil ein vornehmlich weißes, partysüchtiges Tanzpublikum im BWL-Erstsemesterlook.
Auch die New Yorker Town Hall war gut besucht am Freitagabend, als dort „Welcome To The Voice“ Premiere hatte, die Oper des langjährigen Elvis-Costello-Keyboarders Steve Nieve. Lediglich einige der hintersten Reihen auf dem Balkon blieben leer, obwohl selbst die billigsten Plätzr immerhin 40 Dollar gekostet hatten. Es kamen Leute, die aussahen, als wüssten sie, warum sie die Reise in die Nähe des Times Square mit seinen vielen Touristen und bunten Lichtern auf sich genommen hatten – die Understatement-Version des T-Shirt- und mittlerweile auch bauchtragenden Hip-Establishments.
Dabei war „Welcome To The Voice“ eines der ambitioniertesten Projekte des diesjährigen Bell Atlantic Jazzfestivals, ein Musikstück für sieben Stimmen, Streichquartett, Saxofon und Piano. Ob „Zauberflöte“, „West Side Story“ oder „Quadrophenia“, das Opernformat biete sich halt an für Geschichten über unwahrscheinliche Begegnungen, sagt Nieve. Die Handlung ist schnell erzählt: Ein Stahlarbeiter liebt die Oper und wird süchtig nach ihr und der jungen Operndiva in Weiß – eine Neigung, die viel Alkohol braucht. Die obligatorische braune Packpapiertüte ist auch das eindeutigste Objekt der Kulisse – das amerikanische Synonym für den klandestinen Alkoholgenuss in der Öffentlichkeit. Elvis Costello mimt den ständig Betrunkenen mit getönter Brille und kleinem Oberlippenbart, aber ohne klare Kontur. Pathetisch wie eine Rockoper, aber karg wie eine zeitgenössische Klassikaufführung: „Welcome To The Voice“ hat von allem etwas. Im Gegensatz zu einer herkömmlichen Oper allerdings stirbt hier am Ende keiner.
Und es kommt noch besser: Der Trunkene und die Diva scheiden im Duett vereint. Optimistischer kann die Message kaum sein, der Liebe für die Musik geht die Liebe zwischen zwei Menschen voraus.
CHRISTIAN BROECKING
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen