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Eine Brücke für Europas Bürger

Eckdaten einer Grundrechtscharta wird Roman Herzog heute beim EU-Gipfel vortragen – Schritt zur gemeinsamen Verfassung oder bloß schöne Absicht?

aus BrüsselDANIELA WEINGÄRTNER

Wenn Altbundespräsident Roman Herzog heute morgen beim EU-Gipfel im portugiesischen Feira vor die Staats- und Regierungschefs tritt, hat er nicht – wie ursprünglich geplant – die erste ausformulierte Fassung der EU-Grundrechte-Charta im Gepäck. Er wird „mündlich vortragen“, sich auf „Eckdaten und Probleme“ beschränken und das formal damit begründen, dass erst zwei der geplanten fünfzig Artikel ausdiskutiert worden sind.

Tatsächlich handelt hier der listige Politprofi. Statt die Rohfassung seiner schönen Charta hinter Konferenztüren verschwinden und zwischen Nationalinteressen zerrieben zu sehen, wird er die heiklen Fragen geschickt umschiffen. Er will weder die britischen Ängste schüren, demnächst zu einem europäischen Bundesstaat degradiert zu werden und das französische Sozialmodell übernehmen zu müssen, noch die schwedische Kritik anheizen, die Charta falle hinter die sozialen Rechte des eigenen Landes zurück.

Herzog baut auf die Eigendynamik der Brüsseler Runde, die sich den klangvollen Namen Konvent selbst gegeben hat und – zunächst fast unbemerkt von der Öffentlichkeit – in die Rolle einer verfassunggebenden Versammlung hineinzuwachsen scheint. 16 Europaparlamentarier, ein Vertreter jedes Mitgliedslandes, der EU-Kommissar für Justiz und Inneres und 30 Vertreter der nationalen Parlamente beraten seit Dezember die Grundwerte der Europäischen Union. Im Mai hat der Redaktionsausschuss die erste schriftliche Fassung gefiltert, die 30 bürgerliche und politische Rechte und 20 wirtschaftliche und soziale Rechte umfasst.

Schon über das Ob und Wie des Artikels 1 der Charta – „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen“ – wurde im Konvent eine Stunde lang diskutiert. Das gibt einen Vorgeschmack auf die Auseinandersetzungen, die bei den wirklich brenzligen Themen bevorstehen. Zum Beispiel Artikel 3: „Jede Person hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit“ – darauf wird man sich noch einigen können. Aber dann werden die Grundsätze für Biologie und Medizin genannt: Verbot eugenischer Praktiken, Achtung der Entscheidung des Patienten, Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen. Hier ist die europäische Bioethik-Debatte mehrerer Jahre in drei lapidare Zeilen gepackt. Per Charta wird eine Diskussion beendet, die in manchen Ländern noch in vollem Gange ist, wie das Ringen um ein Sterbehilfegesetz in Belgien zeigt.

Noch mehr Zündstoff birgt der zweite Teil mit dem Katalog der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Zum Beispiel Artikel 39: „Jeder Arbeitnehmer hat das Recht, sein Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang zu bringen.“ Oder Artikel 44: „Der Schutz der Umwelt wird durch die Politiken der Union sichergestellt.“ „Wer zu viel will, wird am Ende gar nichts bekommen!“, warnte der Thüringer Europaminister Jürgen Gnauck, der im Konvent für die deutschen Bundesländer sprechen soll.

Während in Deutschland vor allem die Konservativen misstrauisch auf den Katalog wirtschaftlicher und sozialer Rechte schauen, geht die Ablehung in Großbritannien quer durch die politischen Parteien. Die Times urteilte Anfang des Monats vernichtend: „Diese Charta hat weit weniger mit Menschenrechten zu tun als damit, das rechtliche Fundament zu einer Föderation der europäischen Staaten zu schaffen.“ Blairs Europaminister Vaz erklärte, nach britischer Auffassung solle die Charta lediglich ein „Schaukasten der bereits bestehenden EU-Rechte“ werden. Das wollten auch Spanien, Frankreich und die skandinavischen Länder.

Tatsächlich scheinen die meisten Staatschefs bislang darauf zu bauen, dass bei den Brüsseler Sandkastenspielen in Sachen Demokratie am Ende eine Sandburg herauskommen wird: Gemeinsam sollen Rat, EU-Parlament und Kommission das fertige Werk Ende des Jahres in Nizza „feierlich proklamieren“ – danach darf es von der nächsten tagespolitischen Welle wieder weggespült werden.

Ob sich diese Erwartung erfüllt, ist fraglich. Gerade hat die Reaktion auf Joschka Fischers Europarede deutlich gemacht, wie stark die Sehnsucht wird, der Union politische Legitimität zu geben. Das von Fischer angeregte Doppelmandat von nationalem und EU-Parlament, das die Wählerbindung stärken soll, ist im Konvent praktisch schon verwirklicht: Mitglieder nationaler Parlamente stellen knapp 50 Prozent der Versammlung und arbeiten mit EU-Abgeordneten gemeinsam an der Charta.

Der Europäische Rat von Köln, der im Sommer 1999 die Charta in Auftrag gab, ließ die Möglichkeit offen, die Sandburg am Ende doch noch in Beton zu gießen. In Nizza wird entschieden werden, „ob und auf welche Weise die Charta in das Vertragswerk der Europäischen Union aufgenommen werden soll“.

Wenn Roman Herzog heute aus Feira zurückkehrt, steht für ihn gleich die nächste Sitzung im Grundrechte-Konvent auf dem Programm. Die 13 Beitrittskandidaten sollen heute Nachmittag um ihre Meinung gefragt werden. Vielleicht wird er ihnen nach seiner Begegnung mit den Regierungschefs besser sagen können, ob sie sich um die Aufnahme in eine Freihandelszone bewerben oder um die Mitgliedschaft in einer politischen und wirtschaftlichen Wertegemeinschaft.

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