piwik no script img

Auf Nordkorea gezielt, China getroffen

Washingtons Raketenabwehrsystem wird die Spannungen in Asien erhöhen und das atomare Wettrüsten in der Region weiter anheizen

BERLIN taz ■ Als im vergangenen Oktober Japans Vizeverteidigungsminister Shingo Nichimura Atomwaffen für Nippon forderte, weil nur sie eine wirksame Abschreckung böten, musste er zurücktreten. Denn im In- und Ausland hatten Nichimuras Äußerungen einen Sturm der Empörung ausgelöst. Dabei hatte der Rechtsaußen der regierenden Liberaldemokraten nur ausgesprochen, was Japans Nationalisten denken. Aber die Regierung war, anders als von Nichimura erwartet, noch nicht bereit, seinen Tabubruch zu dulden und ein Abrücken von der eigenen Atomwaffenfreiheit überhaupt zu diskutieren.

Nichimura hatte sich zu seiner Äußerung von Nordkoreas Taepo-Dong-1-Rakete ermuntern lassen. Das Geschoss war im August 1998 über Japans Hauptinsel gefeuert worden und dann in den Pazifik gestürzt. Nordkoreas mehrstufige Rakete jagte den Japanern einen dem Sputnikschock vergleichbaren Schrecken ein. Seitdem dienen Nordkoreas Raketen und seine atomaren Ambitionen auch der US-Regierung als Rechtfertigung für die Pläne für ein nationales Raketenabwehrsystem (NMD).

Das System soll vor der atomaren Bedrohung durch „Schurkenstaaten“ schützen. Zu der im Juni von Washington in „Besorgnis erregende Staaten“ umgetauften Ländergruppe gehören außer Nordkorea auch Iran und Irak. Sie entwickeln eigene Raketen, liegen aber noch Jahre hinter Nordkorea zurück. Doch ironischerweise könnte ausgerechnet das US-Raketenabwehrsystem jetzt eher zur atomaren Aufrüstung in Asien führen als die zu seiner Begründung benutzten Raketen Nordkoreas.

Wer bedroht wen?

In China glaubt niemand an eine nordkoreanische Bedrohung der USA. Die Chinesen sehen die US-Raketenabwehr vielmehr gegen sich gerichtet. „Die USA sind eine große Supermacht, und die soll Angst vor dem kleinen Nordkorea haben?“, fragt Sha Zukang, der Leiter der Abrüstungsabteilung im Pekinger Außenministerium. Mit den Entspannungssignalen, die Pjöngjang kürzlich beim Korea-Gipfel aussendete, ist für Peking eine Bedrohung der USA durch Nordkorea noch abwegiger.

Chinas Atomarsenal wird auf zwei Dutzend Langstreckenraketen mit je einem Sprengkopf geschätzt, während die USA rund 6.000 Atomsprengköpfe haben. Bisher strebte Peking nur eine Zweitschlagskapazität an. Diese fürchtet es jetzt durch NMD zu verlieren. Denn während Russland über mehrere tausend Raketen verfügt und die US-Abwehr überwinden könnte, würden Chinas wenige Raketen durch NMD strategisch entwertet. Peking könne nicht tatenlos zusehen, sagt Sha. „Wir werden etwas tun müssen.“ Zu Chinas Optionen gehöre eine starke Erhöhung der Zahl seiner Atomsprengköpfe, eine deutliche Verbesserung der Raketen samt flexiblerer Stationierung oder die Entwicklung einer Waffe gegen den US-Raketenschild. US-Experten sind sich uneinig, ob China dies nicht ohnehin plant oder dazu durch NMD erst gedrängt wird.

Doch wenn China atomar aufrüstet, dürfte dies nicht nur in Japan und Taiwan die Rufe nach Gegenmaßnahmen und womöglich eigenen Atomwaffen im Sinne Nichimuras lauter werden lassen. Auch Indien dürfte sein Atomprogramm forcieren, um gegenüber China nicht ins Hintertreffen zu geraten. Rüstet Indien auf, wird mit Sicherheit auch der Erzrivale Pakistan nachziehen.

China warnt nicht nur vor einem durch NMD ausgelösten atomaren Wettrüsten und der Aufrüstung des Weltraums. Peking wendet sich auch gegen Pläne für ein US-Raketenabwehrsystem in Asien („Theatre Missile Defence“ – TMD). Dieser Raketenschutzschirm soll in Japan stationiert werden. Tokio und Washington lassen bisher offen, ob auch Taiwan darunter fällt. Dies wäre für Peking, das Taiwan als abtrünnige Provinz bezeichnet, ein Affront und eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“. Auch dabei würde China wohl nicht tatenlos zusehen.

Ein atomares Wettrüsten in Asien wäre umso fataler, als dort kollektive Strukturen zur Rüstungsbegrenzung und Konfliktregelung fehlen. Es gibt bisher nur ein unverbindliches Dialogforum am Rande des jährlichen Gipfels der südostasiatischen Asean-Staaten. Doch fast alle Länder in Fernost haben Gebietskonflikte mit ihren Nachbarn.

China fürchtet auch die politischen Folgen von NMD. Fühlten sich die Amerikaner unverwundbar, könnten sie zu nationalen Alleingängen neigen, lautet die Sorge in Peking. Als UN-Sicherheitsratsmitglied hat China bis heute nicht verwunden, dass Washington unter Umgehung der UNO im Kosovo militärisch intervenierte. NMD könnte aus Chinas Sicht dazu beitragen, dass die USA künftig noch weniger Rücksicht auf den Sicherheitsrat und China nehmen müssten. Gestern nahmen beide Seiten in Peking ihre Rüstungskontrollgespräche wieder auf, die seit der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Mai 1999 unterbrochen worden waren. Bei den Gesprächen dürften beide Seiten ihre Positionen zu NMD wiederholen. SVEN HANSEN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen