piwik no script img

Milchflaschen unter Plexiglas

■ Reverenz an die Urahnen: Chilenische „Bilderalphabete“

Entfernung ist relativ. Doch Chile ist vielleicht noch ein wenig weiter weg als manch andere lateinamerikanischen Länder. Dazu kommt noch, dass nach der Pinochet-Diktatur und dem jetzigen neoliberalen Blick Richtung USA sich die Kunst-Szene ziemlich weit von den ursprünglichen Wurzeln des Landes entfernt hat. Wenn zwei junge Künstler aus Santiago, die sich mit eben diesen indianischen Quellen der Kultur befassen, nun in Bergedorf ausstellen, ist das für Hamburger in mehrfacher Hinsicht weit weg.

Die vom chilenischen Außenministerium geförderte Ausstellung ist eine Reverenz an die längst ausgerotteten Chinchorro-Indianer Chiles, die schon vor etwa 8000 Jahren ihre Toten kunstvoll mumifizierten. Und so ähnelt das Bilderalphabet von Rony Gulle in mumienbraunem Farbton teils einer freien archäologischen Aufnahme von Grabbeigaben. Doch zugleich wird mit solchen Werken eine überzeitliche Weisheit beschworen und mit Worten aus dem Sanskrit und dem Japanischen die Seelenwanderung und die meditative Leere zitiert. Jenen inneren Zustand, in dem alles Unwichtige von einem abgefallen ist, bezeichnet auch das spanische Wort „Despojo“, der schwer zu übersetzende Titel der Bergedorfer Ausstellung.

Auch der zusammengebundene Reisigkreis, die auf den ersten Blick primitiv zusammengebaute Leiter und die groben, mit minimalen Zeichen bemalten Stoffe von Marcela Arredondo nehmen eine alt hergebrachte Bedeutung auf: Weben war bei den Indianern ein heiliger Akt, indem zugleich mit dem praktisch nutzbaren Ergebnis symbolisch auch das Waagerechte mit dem Senkrechten verbunden wurde wie Mutter Erde mit Vater Sonne. Ein durchaus universeller Gedanke, findet die Künstlerin aus Santiago, die einen Großteil der Materialien für ihre Arbeit aus dem Wald hinter dem Bergedorfer Künstlerhaus geholt hat.

Bei einer derart gebrochenen Geschichte wie in Chile ist Erinnerung eine zentrale Aufgabe: Wie Reliquien präsentiert Rony Gulle in großen Plexiglaskästen zwei alte Milchflaschen vom Flohmarkt mit einer einmontierten Flackerkerze, die dort sonst nur bei der katholischen Messe benutzt wird. Dazu tragen die alten Gläser die Worte Espiritu (Geist) und Intellecto, in blutrot und kühlblau als eine Dualität von Offenbarung und Verstehen bei der Erinnerungsarbeit.

Doch am Ende bleiben vielleicht trotz allem nur vage Spuren, wie bei den „Gebetsflaggen“ von Marcela Arredondo, eine Wand voller sparsam bezeichneter und mit unscheinbaren gefundenen Dingen benähter kleiner Leinentücher, ein kleines Geschenk, kurz vor der meditativen Leere - „despojo“ eben. Hajo Schiff

Marcela Arredondo und Rony Gullé – Despojo, Galerie des Künstlerhauses Bergedorf, Möörkenweg 18 b-g, Samstag, Sonntag 15 – 18 Uhr, bis 23. Juli.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen