: Entschädigung: Mit 20 Mark dabei?
Jeder erwachsene Deutsche soll 20 Mark für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern spenden, so ein Vorschlag von Günter Grass, Carola Stern und Hartmut von Hentig. Die taz fragte in Berlin nach: Was halten Sie von diesem Spendenappell?
Dieter Scholz, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds Berlin-Brandenburg:
„Der Vorschlag ist ehrenwert gemeint, und dass alle eine moralische Verantwortung haben, ist keine Frage. Aber die Wirtschaft hat 50 Jahre die Verantwortung vor sich her geschoben, man sollte sie nicht daraus entlassen. Sie muss jetzt den Kopf dafür hinhalten. Es kann nicht sein, dass heute Nachkommen von Widerstandskämpfern zahlen müssen.“ Foto: Bernd Hartung
* * *
Werner Gegenbauer, Präsidentder Industrie- und Handelskammer Berlin:
„Wir beurteilen die Anregung grundsätzlich positiv. Die Stiftungsinitiative ist heute schon offen für Beiträge von Privatpersonen. Jede Initiative ist willkommen, die dazu dient, das Ziel – die von der Wirtschaft geforderten fünf Milliarden Mark – zu erreichen. Die Wirtschaft ist damit nicht aus ihrer Verantwortung genommen.“ Foto: Vision Photos/Klostermeier
* * *
Willi Frohwein (77) aus Potsdam, drei Jahre KZ-Häftling in Auschwitz und Bergen-Belsen:
„Ich weiß nicht, ob dieser Vorschlag für die Atmosphäre der Aussöhnung mit den Nachgeborenen förderlich ist und ob er sich an die Richtigen wendet. Die Industrie dagegen, die gut an der Zwangsarbeit verdient hat, bekennt sich nicht zu ihrer Schuld. Wiedergutmachung kann es aber sowieso nicht geben: Für mich ist das viel mehr eine moralische als ein finanzielle Frage.“
* * *
Wilfried Radloff (51), Ladenbesitzer:
„Grass ist ein netter Kerl, aber manchmal flippt er aus. Der soll machen, was er will, aber dieser Vorschlag ist wirklich das Letzte. Ich habe prinzipiell etwas dagegen, in irgendeiner Form für die Dummheit und die Aktionen vergangener Generationen zu haften. Die Industrie hat doch damals daran verdient. In meiner Familie wurde jedenfalls kein Zwangsarbeiter beschäftigt.“ Foto: Detlev Schilke
* * *
Wolfgang Benz, Historiker und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität:
„Moralisch ist der Vorschlag von Günter Grass natürlich ein ganz erstklassiger Gedanke. Allerdings stößt er sicherlich auf völliges Unverständnis besonders bei der jungen Generation. Dem Normalbürger ist nicht klar zu machen, warum Lieschen Müller zahlen soll, wenn etwa Siemens nicht zahlt. Ich sehe in dem Vorschlag einen Versuch der Initiatoren, über einen Umweg Druck auf die eigentlich Verantwortlichen, die Industrie, auszuüben.“ Foto: Rolf Schulten
* * *
Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Berlin:
„Ich denke, man wird nicht darum herum kommen, diejenigen, die von der Zwangsarbeit profitiert haben, zur Ader zu lassen. Das ist jedoch nicht Aufgabe des Steuerzahlers. Private Spenden ja bitte, aber nicht zwangsweise: Das wäre eine Steuer, und die kann nur der Staat erheben. Es gibt keine gesellschaftliche Gruppe, die von der Zwangsarbeit nicht profitiert hat.“ Foto: AP
* * *
Gerda-Marie Schönfeld, Journalistin:
„Der Vorschlag ist völlig richtig. Natürlich trifft eine heute Zwanzigjährige keine Schuld, aber es gibt so etwas wie eine Kontinuität, der man sich stellen muss. Schließlich beteiligen sich aus Solidarität auch Unternehmen, die es damals noch gar nicht gab. Aber ich finde nicht, dass nur die Industrie zahlen sollte. Damals hat doch jeder Bäcker davon profitiert. Insofern ist es auch in Ordnung, dass Unternehmen ihre Zahlungen von der Steuer absetzen können und damit alle Bürger daran beteiligen.“ Foto: Detlev Schilke
* * *
Johannes Zerger, Sprecher der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste Berlin:
„Dieser Vorschlag darf nicht dazu genutzt werden, dass Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben, sich aus der Verantwortung ziehen. Grundsätzlich ist richtig, dass alle Verantwortung tragen und sich ihr stellen müssen.“
* * *
Ernst Müller (82) aus Berlin, vier Jahre Zwangsarbeiter in Konzentrationslagern, darunter Auschwitz und Theresienstadt:
„Grass meint es gut, der Gedanke ist vom humanitären Standpunkt aus betrachtet lobenswert, aber das ist keine Lösung. Es ist nicht zu durchzuführen, von jedem Bürger Geld einzusammeln. Zudem wäre es falsch, denn die Industrie versucht auf allen Wegen, sich zu entziehen. Entschädigungen kann es aber grundsätzlich nie geben, weil die Auswirkungen der Zwangsarbeit nicht mit Geld zu bezahlen sind.“
* * *
Edwin Schad, selbstständiger Personalvermittler:
„Ich denke schon, dass die Bevölkerung zu ihrer Vergangenheit steht. Aber warum sollen wir überall zahlen, während die großen Unternehmen von Steuererleichterungen profitieren. Im Übrigen zahlt die öffentliche Hand schon einen großen Anteil, das zahlt letztendlich auch der Steuerzahler. Unbedingt muss der Druck auf die Industrie erhöht werden. Man sollte eine schwarze Liste der Unternehmen veröffentlichen, die nicht zahlen wollen. Sonst beteiligen sich doch nur die Unternehmen, die ein starkes Amerika-Interesse haben. Ich jedenfalls werde nicht zahlen.“ Foto: Detlev Schilke
Interviews: BERT SCHULZ FELIX WÜRTENBERGER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen