castro wieder beliebt: Changingreputations
„Changing reputations“ nannte sich einst eine Sendung des BBC, die der unterschiedlichen Wahrnehmung von Persönlichkeiten im Lauf der Zeiten gewidmet war. Das Urteil schwankte gleich einer Wechselstromkurve mit Aufstieg und Niedergang des jeweils neuesten Paradigmas. Unser Rad der Fortuna kennt eben mehr als eine Drehung. Fidel Castro, der Jahrzehnte an der Macht überdauert hat, kann dies für sich selbst bezeugen.
Kommentarvon CHRISTIAN SEMLER
Im ersten Jahrzehnt der kubanischen Revolution galt Castro, zusammen mit seinem Freund und Rivalen Che Guevara, als Inbegriff eines eigenständigen Wegs zum Sozialismus, der „den Massen“ mehr vertraute als den Parteiprinzipien des demokratischen Zentralismus. Dann wies die Kurve mit der ökonomischen Misere, mit polizeistaatlicher Drangsalierung und der aus beiden Übeln resultierenden Massenflucht steil nach unten. Seit dem Abtritt seiner Gönner in Russland wurde Castro auch im Milieu der westlichen Linken zum Dinosaurier. Er verkörperte all das, was man als Linker in der eigenen Biografie von sich abgetan hatte.
Jetzt weist die Kurve wieder steil nach oben. Nicht in Kuba, wohl aber in unseren Längengraden. Hier gilt der Máximo Líder zwar als ein etwas schrulliger alter Herr, der nun mal nicht von den sozialistischen Flausen lassen will. Gleichzeitig aber wird er als Fels in der Brandung gegen die neoliberale Flut gefeiert, als Urgestein, das sich von der Globalisierung nicht platt walzen lässt, zuletzt sogar als Retter, der ein unschuldiges Kind den Fangarmen der Miami-Krake entriss.
Und seltsam: Nicht nur versprengte Linke lieben ihn aufs Neue, nicht nur der Papst mit seinen notorischen Vorbehalten gegenüber dem Kapitalismus, nicht nur Amerika-skeptische Eurokraten – sondern zunehmend auch die politische Schickeria mit und ohne Cohiba im Mundwinkel.
Es wird nicht mehr lange dauern, und der Hintergrund von Castros Porträt wird aus schierem Gold gefertigt sein, wie bei den Ikonen der Orthodoxie. Die katastrophalen realen Verhältnisse Kubas stören bei der Ikonenmalerei nicht im Geringsten. Sie sind erstens der amerikanischen Blockade geschuldet und zweitens: Was heißt schon Ökonomie? Dass Castro kürzlich freimütig gestand, er verstehe so gut wie nichts vom Wirtschaften, gereicht ihm bei uns nur zum Vorteil. Der Mann hat nicht nur Macht, sondern auch deren unverzichtbares Korrektiv: Selbstironie. brennpunkt SEITE 3
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen