: Leitmotiv Presslufthammer
Global Cities im Vergleich: Drei Jahre nach der Übergabe an China sucht Hongkong nach seiner Rolle im Zwischenraum. Mit dem „Festival of Vison“ präsentiert sich nun seine Kultur-Avantgarde in Berlin
von DANIEL BAX
Wenn der Architekt Rocco Yim aus seinem Bürofenster blickt, kann er die Hafenbucht von Aberdeen sehen. Außerhalb seines Blickfelds liegen dort die „Floating Restaurants“: ein Touristenziel, dessen kitschiger Pagodenstil, bei Nacht effektvoll illuminiert, so ziemlich das markanteste ist, was Hongkong an traditionell chinesisch wirkender Architektur zu bieten hat. Doch schon der erste Blick verrät, dass es sich um eine vorsätzliche Täuschung handelt. Denn sowenig die Restaurants wirklich alt sind, so wenig schwimmen sie auf dem Wasser. Tatsächlich fußen sie auf Betonstelzen, seit die ursprünglichen Holzkonstruktionen bei einem Brand im Feuer aufgingen.
Vor sich auf dem Tisch hat Rocco Yim ein Modell stehen. Es zeigt jenen Bambus-Pavillon, den er zum „Festival of Vision“ beisteuert, mit dem sich eine Hand voll innovativer Kulturprojekte aus Hongkong von Ende Juli bis Anfang September in Berlin vorstellen werden. In seiner minimalistischen Mikado-Ästhetik wirkt der Pavillon wie ein futuristischer Tempel, der in der Luft zu schweben scheint. Der Berliner Bauaufsicht war das nicht geheuer: Sie verlangte Unmengen von Unterlagen, bevor sie ihr Plazet gab. „Sie haben schon Recht, vorsichtig zu sein“, äußert Yim Verständnis. „Aber es ist ein erprobtes Material, wir haben Erfahrung damit.“ In Hongkong werden die flexiblen, sturmfesten Stangen zum Gerüstbau herangezogen. Die mit Bambus eingezäunten Neubauten, die überall zu sehen sind, bieten sich als Metapher der Boomtown Hongkong an: Schließlich stützt sich die Finanzmetropole auf eine Gesellschaft ehemaliger Migranten, deren wirtschaftlicher Aufstieg nicht unwesentlich einem traditionell engen Familienzusammenhalt zu verdanken ist.
Keine Dschunke im Bild
Rocco Yim ist einer der führenden Architekten der Stadt. Auf sein Konto gehen so markante Bauten wie der Citibank-Turm im Zentrum, die luftigen Shopping-Arkaden des gerade mal zwei Jahre jungen Flughafens auf der Insel Lantau und auch die Stationsbauten der neuen Expressbahn, die dorthin führt. Wenn es so etwas wie einen Hongkong-typischen Baustil gibt, dann repräsentiert ihn Rocco Yim: funktional, durchlässig, bedürfnisgerecht. „Das Bauen in Hongkong ist von Notwendigkeiten bestimmt, nicht von der Suche nach einem eigenen kulturellem Ausdruck“, sagt er – anders als in Singapur, wo noch eine nennenswerte historische Substanz konserviert wurde, oder in einer Konkurrenz-Metropole wie Kuala Lumpur, wo bei modernen Bauten gerne eine islamische Symbolik bemüht wird.
In Hongkong dagegen ist alles auf die Gegenwart gerichtet, die Überreste der Vergangenheit längst unter einem Wust aus Wolkenkratzern begraben. Anders, als manche überholten Reiseführer glauben machen wollen, segeln auch keine Dschunken mehr vor der überbordenden Skyline, Barometer der Wirtschaftsentwicklung und einer der imposantesten Anblicke Südostasiens – das einzige chinesische Segelschiff, das dort gelegentlich aufkreuzt, dreht seine Runden im Auftrag des Tourismusbüros, allein für die Kameralinsen.
Seine Einzigartigkeit verdankt Hongkongs Stadtbild den natürlichen Rahmenbedingungen: Von der Fläche her fast genau so groß wie Berlin, bietet der Inselflecken eine ungleich ungünstigere Oberfläche, um doppelt so viele Einwohner zu beherbergen. Ergebnis: die größte Wohndichte der Welt. Die Stadt ist auf Hängen gebaut, ein Wald von emporstehenden Betonriegeln, wie Zahnstocher in einen krümeligen Kuchen gebohrt. Selbst 60-stöckige Hochhäuser thronen auf abschüssigen Hügeln. Bedürfnisgerecht bauen bedeutet hier nicht nur, jeden Quadratmeter zu nutzen– es bedeutet auch, den Raum durchlässig zu gestalten, um maximale Mobilität auf allen Ebenen zu gewährleisten. Denn Mobilität ist alles in Hongkong, das auch den Superlativ als schnellste Stadt der Welt verdient – ein Gehen, ohne dabei gleichzeitig zu telefonieren, wirkt hier wie Zeitverschwendung. So verknüpft ein gewöhnungsbedürftiges Gewirr aus Überführungen, Rolltreppen, Brücken und Tunneln das urbane Konglomerat aus Banken, Shopping-Malls, U-Bahn-Stationen und Hotelfoyers zum zusammenhängenden Gewebe, zur begehbaren Stadtskulptur, in der die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum verschwimmt – ein Passagenwerk in dreidimensionaler Matrix.
Das Fehlen einer Tradition jenseits des kolonialen Erbes ist Grund für das Gefühl einer rasenden Gegenwart, das sich in Hongkong schnell einstellt, die Kehrseite der Zukunftsgewandheit ist die einer gewissen Geschichtsvergessenheit. Der Reichtum der Stadt, auf der ihr ganzes Selbstverständnis beruht, ist gerade mal 25 Jahre alt. Irgendwo wird immer gebaut, und der Presslufthammer rattert das Leitmotiv – das hat Hongkong mit Berlin gemeinsam. Nach einer Wiedervereinigung unter umgekehrten Vorzeichen muss auch Hongkong seine neue Rolle erst noch finden, sich neu definieren. Aber „Berlin hat Geschichte“, sagt Rocco Yim. Er lässt offen, ob das ein Vorzug ist oder eher ein Handicap.
Den Musiker Kung Chi Sing hat das Leben in Hongkong zur Komposition einer „Pop-Oper“ veranlasst. In der Stadthalle von Shatin, einem Ortsteil auf der Festlandseite, probt er für die Premiere von „City inside a broken sky“. Mit dabei: befreundete Künstler aus Städten von New York bis Tokio. Solch internationaler Anspruch ist typisch für Hongkongs Kulturszene, selbst wenn sie von bescheidenen Mitteln lebt. „Die Telefonrechnung war astronomisch“, sagt Sing, und die ganze Produktion viel teurer als geplant. Finanzieren konnte er sein Projekt ohnehin nur mit öffentlichem Zuschuss, seine Mitstreiter allerdings werden wohl auf ihre Gage verzichten müssen.
Kinetische Skulpturen
Auf der Bühne stehen große, seltsame, sperrige Geräte, die sich organisch bewegen, „kinetische Skulpturen“. Eine Band spielt die Stücke, Sing springt mit seiner Violine umher, ein japanischer Tänzer untermalt die Musik mit expressiven Bewegungen – das alles erinnert stark an Sings Vorbild Laurie Anderson. Es ist dieser Déjà-vu-Effekt, der Hongkongs Kulturprodukten eine diffuse Uneigentlichkeit verleiht, den Ruch bloßer Imitation. Sandee Chen, eine Sängerin aus Taiwan, und Jun Kung, ein Nachwuchs-Popstar aus Hongkong, wechseln sich mit dem Gesang ab. Der Sound ist erstaunlich harmonisch ausgefallen dafür, dass Sing die Gegensätze der Stadt illustrieren wollte. Nach den Proben steht der 22-jährige Jun in der U-Bahn und schwärmt von der Zusammenarbeit: „das Wichtigste, was ich seit langem gemacht habe“. Musiker wie Jun, die selbst ein Instrument spielen, komponieren oder gar produzieren, sind rar gesät in Hongkongs hypegesteuerten Pop-Mikrokosmos, in dem es mehr auf das Image ankommt als auf die Inhalte. Ihm fehle im Musikbusiness „die Ernsthaftigkeit“, sagt Jun. „Was ich in der Industrie gelernt habe? In zwei Wochen eine Platte zu produzieren!“
Vergleichbar hektisch geht es in Hongkongs Filmbranche zu. Aber Film ist das Medium, in dem Hongkongs hybride Eigenart am leuchtendsten aufscheint und weit über die Region hinaus ausstrahlt. Alfred Cheung gehört zu den namhafteren Hongkong-Regisseuren. Vor Jahren drehte er eine Reihe erfolgreicher Komödien um eine Spezialagentin aus der Volksrepublik, die sich auf ihrer Mission in Hongkong mit einem dortigen Polizisten verbünden muss – näher ist man dem Genre der politischen Satire in Hongkong wohl nie gekommen. Derzeit arbeitet Cheung an einer Sitcom-Serie fürs Fernsehen, und wieder geht es dabei um das delikate Verhältnis zwischen Hongkong- und Festland-Chinesen. Es ist die Geschichte einer Familie aus Shanghai, die in Hongkong ein Erbe antritt – ausgerechnet eine Bar, jenes Symbol britisch-westlicher Lebensart schlechthin. Anders als zu erwarten erweist sich der Clan dabei als ziemlich gewieft. Alfred Cheung will mit seiner Sitcom nicht nur unterhalten. „Die meisten Hongkonger halten sich für überlegen, aber das ist ein Irrtum“, meint er. „Denn umgekehrt sind auch die Shanghaier sehr selbstsicher, geradezu arrogant. Vor fünf Jahren haben sie gesagt, wir werden euch einholen. Und ich muss sagen: Sie haben uns fast schon eingeholt – kulturell wie wirtschaftlich.“
Das Verhältnis zwischen Hongkong und dem Festland ist von Ambivalenz geprägt. Erst mit der Übergabe hat sich in Hongkong ein wirkliches Bewusstsein für die Eigenart der Enklave entwickelt. In Shanghai und Peking aber betrachtet man die gerade mal rund 150 Jahre junge Metropole – und das bei 2.000 Jahren chinesischer Geschichte! – gerne als Parvenü und spricht ihr jede kulturelle Relevanz ab. In dieser kapitalistischen Kompressionskammer scheint tatsächlich wenig Platz für eine Kultur jenseits von Entertainment. Und eine aus der Kolonialzeit weitergeführte Kulturpolitik, die mit öffentlichem Geld vor allem Repräsentationskultur fördert, Gastspiele philharmonischer Orchester oder eben Aufführungen chinesischer Opern, trägt auch wenig bei zur Stärkung der lokalen Szene.
Zwei Stühle, ein Tisch
Trotzdem gehen von Hongkong wichtige Impulse aus, die auch China nicht unberührt lassen. „Hongkong ist Chinas Verbindungstor zur Welt“, sagt Yueway Wong, Mitglied der Künstlergruppe Zuni Icosahedron. „Die Grenze ist aber immer noch dicht für Künstler vom Festland, sie können nur mit Touristenvisa einreisen – die Behörden sind da sehr argwöhnisch.“ Das Zuni-Kollektiv sähe Hongkong gerne als kulturelle Schaltstelle der Region. Als Agent der Verknüpfung leistet die Gruppe selbst Pionierarbeit. Der Idee des transasiatischen Dialogs dient die 1997 gegründete Kulturaustauschplattform des „Asian Arts Net“, der Akteure aus 14 asiatischen Großstädten angehören. Und Kooperationen mit anderen Gruppen pflegen sie mit einer Performance-Reihe, die unter dem Motto „One table, two chairs“ steht. Das der China-Oper entlehnte Motiv spielt auf Hongkongs Sonderstatus an, den Peking unter der Formel „Ein Land, zwei Systeme“ für eine Frist von 50 Jahren eingeräumt hat. Der doppelte Maßstab bedingt den Grad der Freiheit, der Hongkong gewährt wird. Kulturelles Engagement dient da nicht zuletzt als Signal nach außen – hallo, wir leben noch!
„Festival of Vision“, 29. Juli bis 10. September im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Genaues Programm unter www.hkw.de
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