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Marx Brothers in Usbekistan

Alles beseelt, alles lebendig, alles fliegt. In seinem durchgeknallten Märchen „Luna Papa“ lässt der tadschikische Regisseur Bakhtiar Khudojnazarov Embryos erzählen und Kühe vom Himmel fallen. Ein zentralasiatisches Fantasialand zwischen Kitsch und Budenzauber, Shakespeare und „Top Cruise“

von BIRGIT GLOMBITZA

Sogar der Dreck leuchtet. Das Meer hat die Farbe eines WC-Reinigers. Und der Himmel hängt so schwer über der Szene, dass er den Menschen im Dreiländereck Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisien jederzeit auf die Köpfe fallen kann – auf naturverbundene Starrköpfe, die im Kaffeesatz das Weltgeschehen durchschauen, aber den Einfluss der Moderne, die sich in Form von Telefon und Föhnhaube ihren Weg in die Pampa gebahnt hat, nicht wahrhaben wollen.

„Luna Papa“ ist ein Film über Menschen, die vor lauter Sonne manchmal zu wenig denken und zu viel herumhampeln“, fasst Regisseur Bakhtiar Khudojnazarov zusammen. Und dann erzählt er eine Anekdote von zwei Piloten, die einen Bullen klauen. „Das Tier wütete so im Flugzeug herum, dass die Crew aus Angst vor einem Absturz die Luke öffnete.“ Der Bulle springt raus. Aus 5.000 Meter Höhe. Er landet auf einem Fischerboot, das sofort untergeht. „So wahr ich hier sitze“. Khudojnazarov schüttelt noch eine Weile hingerissen den Kopf.

Sein Film ist in dieser Hinsicht nahezu dokumentarisch. Vom Stein bis zur eingeschnappten Tür ist für die Menschen in „Luna Papa“ alles lebendig. Alles ist beseelt. Alles fliegt. Besonders Kühe, Dächer, Flugzeuge und Menschen wie Nasreddin (angemessen verwirrt gespielt von Moritz Bleibtreu), der lieber eine Maschine wäre. Mit ihm hebt „Luna Papa“ ab zur Heimkehr in ein Zauberreich, dem kein Krieg je etwas anhaben kann, das einzige Imperium, für das es sich noch zu kämpfen lohnt. So das stumme Credo des zurückgebliebenen Nasreddin, dem es seit seinem Einsatz in Afghanistan die Sprache verschlagen hat. Dafür bindet er sich Wasserflaschen unter die Arme, breitet sie weit aus und wird mit viel Getöse zum Kampfbomber, der sich vor Kindern und Gänsen im Dorf wichtig macht.

Seine Schwester Mamlakat, die Chulpan Khamatova mit der Energie eines wild gewordenen Karussells ausstattet, ist seine Kaiserin und obendrein selbst eine Heldin, die täglich einen Haufen Drachen zu erledigen hat: frei wildernde Militärs, die die Bevölkerung mit schrottreifen Panzern nach Belieben um das Kaspische Meer treiben. Oder eine Dorfgemeinschaft, so traditionsstur, dass selbst dem steifnackigsten Bullen bang ums Herz wird.

Der sechste Film des Wahl-Berliners Bakhtiar Khudojnazarov ist ein hypermotorisches Märchen vom Fliegen und vom Überleben. Voller Raufereien und Unfälle, laut und chaotisch, kitschig und rabiat. Und zu einem Märchen, das etwas auf sich hält, gehören eine Geburt, eine Hochzeit und eine Beerdigung. Bis zur Geburt hat hier ein Embryo das Wort. Noch nicht auf der Welt, plaudert dieses Es aus dem Off über das Leben wie ein alter Seebär über die sieben Weltmeere. „Der Film wird nicht nur von einem Kind erzählt“, erklärt Bakhtiar Khudojnazarov, „er ist selbst wie ein Kind. Von einer Sekunde auf die andere kann er überall sein. Er kann vor- und zurückspringen durch die Zeiten, Totes lebendig und Unmögliches möglich machen. Mit der Embryonalperspektive wurde es auf einmal ganz leicht, aus dem Film eine fantastische Großoffensive zu machen.“

Wenn ein Ungeborenes seine eigene Zeugungsgeschichte erzählt, ist das schließlich so, als stricke ein Pullover sich selbst, oder als filme sich ein Film von alleine. Dann braucht es kein LSD mehr, um die Zeit zwischen Geburt und Tod als einen Trip aus Konfusion, Magie und Euphorie zu erleben. Seinen biologischen Anfang nimmt der Erzähler dieses dramatischen Films passenderweise im Theater. Dorthin zieht es Mamlakat, wenn ihr die eigene Welt trotz allen Zaubers zu eng wird. Dann schmachtet und leidet sie mit, dass kein Theatervorhang der Welt als Schneuztuch reichen mag. Shakespeare ist groß. Schauspieler sind größer. Doch „Top Cruise ist der Allergrößte“, schwärmt sie lauthals. Das findet auch eine Stimme hinter ihr im Dunkeln und macht sich mit einem „Ich bin Toks bester Freund“ interessant. Mamlakat ist beeindruckt und verliert vor lauter Staunen den Boden unter den Füßen. Sie rutscht und rutscht. Hinein in eine folgenreiche Umarmung mit einem Unsichtbaren, hinein in die Wonnen eines verbotenen Reiches, um das die Erwachsenenwelt seit jeher so einen Wirbel macht. Erst am nächsten Morgen bremst der Boden der Tatsachen Mamlakats Rausch aus. Dann torkelt sie benommen mit zerissenem Kleid, zerwuseltem Haar und wirrem Herzen zurück in ihr Dorf. Dorthin, wo voreheliche Jungfräulichkeit noch eine Voraussetzung ist, um unverprügelt zum Bäcker zu gehen.

Mit der Vatersuche wird „Luna Papa“ zum wunderbaren Slapstick. Ein Comic, in dem der magische Realismus des Films immer wieder auf der Sturheit der Wirklichkeit prallt. Noch in der tiefsten Erniedrigung gibt es Augenblicke des Triumphes. Oder wenigstens verlässliche Eiswagen. Oder labile Kühe. Marx Brothers in Usbekistan.

Und natürlich Shakespeare. Romeos Gejammer, das bei der Vorstellung im zentralasiatischen Schnarchen fast untergeht. „Dennoch ist Shakespeare extrem beliebt“, sagt Khudojnazarov, der das halbe Jahr über auf Reisen durch seine alte Heimat, die ehemalige Sowjetunion, ist. „Auch wenn die Menschen vielleicht noch nie etwas vom elisabethanischen Weltbild gehört haben, spüren sie doch, dass zum Beispiel diese Lebenskette, nach der jedes Wesen mit jedem anderen in der Natur verwandt ist, auch etwas mit ihrem Leben, ihrer Mystik und ihrem unmittelbarem Zugang zu ökologischen Kreisläufen zu tun hat.“ Mit shakespearschen Macht- und Existenzgrübeleien lässt sich „außerdem wunderbar die staatliche Zensur umgehen, die die Aufführung zeitgenössischen Theaters meist verhindert“.

Selbstredend brauchte es für Khudojnazarovs seltsamen Kosmos eine besondere Kulisse. Ein eigens gebautes Dorf musste her. Dafür wirbelte die Abteilung Filmbauten durch die Architekturgeschichte wie durch einen besseren Baumarkt. Hier eine Brücke Marke sozialistischer Realismus, da ein paar mediterrane Ausblicke und noch eine Hand voll maurischer Schnörkel. „Ein architektonisches Fantasialand, in dem jeder etwas wieder entdecken soll.“ Am Ende wird Mamlakat noch einmal davonkommen. Zwischen Rote-Kreuz-Helfern und Shakespeare-Kostümen findet sie jemanden, der die werdende Mutter liebt. Doch der Zufall mag’s dramatisch. Auf dem Hochzeitsfest stellt er die Weichen auf tragische Todesfälle. Mit fliegenden Tieren muss man auf diesem Flecken Erde wohl immer rechnen.

„Luna Papa“. Regie: Bakhtiar Khudojnazarov. Mit Chulpan Khamatova, Moritz Bleibtreu u. a. Österreich/Deutschland/Russland/Schweiz/Frankreich 1999, 107 Min.

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