: Sagen Sie mal was Positives
■ In Bremerhaven gibt es so viel maritimen Kitsch, dass selbst Bremerhavener Selbstmordgedanken haben. Bevor sie zur Tat schreiten, diskutieren sie aber über den Zustand der Kultur in der Seestadt. Auf Einladung der taz trafen sich Schwarzseher und Weißmaler
„Bremerhaven ist eine Stadt mit 145.000 Einwohnern.“ Auf 20 Jahre alten Postkarten kann man diese stolze Zahl noch finden. Inzwischen ist die Stadt um 20.000 EinwohnerInnen geschrumpft, die Jüngeren gehen spätestens nach der Ausbildung weg, wer studiert, kommt in den seltensten Fällen wieder zurück – ist Bremerhaven eine graue Stadt am Meer, eine Stadt ohne Identität? Jahrelang wurde um den Sinn und Unsinn des Ocean-Parks gestritten, der ursprünglich spätestens bis zur EXPO Millionen BesucherInnen in die Stadt schleusen sollte. Das Ergebnis: Der triste Parkplatz zwischen Deich und Columbus-Center, wo der Ocean-Park entstehen sollte, besteht nach wie vor, in diesen Tagen ist auf dem angrenzenden Gelände eine weitere Halle mit historischem Charakter abgerissen worden. Vor den Resten des Gebäudes steht seit einem halben Jahr ein großes Schild mit dem passenden Motto: „Gut zur Lücke!“ – ein Parkplatzhinweis der Stadt wird so zum unfreiwilligen Kommentar zur Stadtentwicklung. Wie kann man unter diesen Voraussetzungen Kulturpolitik machen, ohne zu verzweifeln?
Die taz lud fünf ExpertInnen zu einem Gespräch ein. Schul- und SPD-Kulturdezernent Wolfgang Weiß, von seiner Partei kürzlich für eine weitere Amtszeit mit großer Mehrheit wiedergewählt, stellte sein Dienstzimmer zur Verfügung. Mit ihm und untereinander diskutierten Eva Schad, Kantorin des Kirchenkreises, Johann Tammen, Herausgeber der in Bremerhaven verlegten Literaturzeitschrift „die horen“, Dorothee Starke, Leiterin des Theaters am Fischereihaven (TiF) und Jürgen Wesseler, Gründer des „Kabinetts für aktuelle Kunst“ und Vorsitzender des Kunstvereins. Zwei Stunden, die manchmal heftig wurden und manchmal erstaunlich sanft, die off records weitergingen und auf jeden Fall ein Fazit erlauben: Wir müssten öfter miteinander reden.
taz: Was würden Sie Ortsfremden, die zum ersten Mal nach Bremerhaven kommen, empfehlen, sich unbedingt anzusehen?
Starke: Den Containerhafen.
Tammen: Der Hafen überhaupt, mit seinem eigenen Gesicht und seiner besonderen Atmosphäre, die sehr ausgeprägt ist, aber von der Stadt weitgehend ausgeklammert wird.
Schad: Das Umland, die ganze Gegend bis nach Cuxhaven.
Weiß: Ich würde den Weg empfehlen vom Morgenstern-Museum zur Kunsthalle, an der Hochschule vorbei zum Ungersbau, Richtung Museumshafen und Schifffahrtsmuseum, diese ganzen Perlen der Architektur, das ist ein schöner Weg.
Wesseler: Das einzig Vorzeigenswerte ist der Bereich zwischen Stadttheater und Geeste. Alles andere ist Schrott. Es gibt für mich Gebiete, in die ich nicht mehr gehe, die ich völlig ausklammere. Neulich bin ich von der Keilstraße über den Deich am Schifffahrtsmuseum entlanggegangen. Ich hatte zum ersten Mal Suizidgefühle, ich war drei Tage lang völlig erledigt.
Weshalb?
Wesseler: Der maritime Kitsch um das Schifffahrtsmuseum herum, bis zum Einblick in das Museum hinein – ich habe noch nie so viel Unvermögen gesehen.
Weiß: Dazu lassen Sie mich was sagen, als jemand, der hier gerne lebt: Ich wohne in so einer, wie Sie sagen, Schrott-Gegend, in der Nähe der Alten Bürger. Wenn Sie sich die Häuser dort anschauen, die sind sehr schön saniert und restauriert, das ist alles andere als Schrott. Sie können eine Stadt, die auf dem Reißbrett entstanden ist, die zweimal eine neue Geburt erlebt hat, die mit dem Bau des Columbus-Center eine neue Mitte schaffen wollte, nicht vergleichen mit einer Stadt, die Jahrhunderte alt ist und gewachsene Strukturen hat. Das ist ja starker Tobak.
Wesseler: Ich bin hier geboren und ich habe die Stadt immer geliebt. Was ich hier sehe, ist das totale Unvermögen, eine Stadt zu erhalten oder zu verbessern. Prinzipiell wird das Neue schlechter als das Alte. Mit kleinen Ausnahmen. Der einzige Rahmen, in dem städtebaulich etwas gelungen ist, ist die Ecke zwischen Theodor-Heuss-Platz und der Geeste bis runter zum Morgenstern-Museum. Am Alten Hafen befindet sich eine Ansammlung von maritimem Kitsch. Auf jeder kleinen Grünfläche werden Anker hingelegt. Alte Siedlungsstrukturen werden zerstört. Die 50er-Jahre-Architektur der Bürger ist zwar keine Offenbarung, aber immerhin eine Haltung.
Weiß: Ich bin über die extreme Art Ihrer Äußerungen erschrocken. Die Tendenzen zur Verkitschung der Stadt sind allerdings unübersehbar.
Wesseler: Der Publizist und Verleger Wolf Jobst Siedler bezeichnet solche Tendenzen treffend als Infantilisierung des Städtebaus.
Verbinden wir das Stichwort Infantilisierung mit den Stichworten Vision und Ocean-Park. Jahrelang wurde über den Ocean-Park gestritten. Die einen haben darin eine sinnvolle Vision für Bremerhaven gesehen, die anderen haben vor der Plastik-Disney-Illusionswelt gewarnt. Dieser Traum ist ausgeträumt, der Park wird wohl nicht gebaut. Heißt das, wir können jetzt nüchterner planen oder heißt das, es gibt keine Visionen mehr für diese Stadt?
Starke: Nüchterner? Ich war entsetzt, als ich kürzlich die Zeitung aufschlug und von der im Grunde hervorragenden Idee um das Thema Auswanderung gelesen habe, und es wird wieder mit den gleichen Worthülsen gearbeitet wie beim Ocean-Park, die einmalige, die heilsbringende Chance. Ich kann's nicht mehr hören. Ich finde es grauenhaft, dass nicht endlich mal nüchtern diskutiert wird, was möglich ist und was sinnvoll ist in der Stadt, statt immer alles gleich als den großen Wurf hinzustellen.
Aber Auswanderung [1]– wäre das nicht ein sehr sinnvolles, weil mit der Geschichte Bremerhavens verbundenes Thema, das man anstelle von Ocean-Park-Phantasien auch für Touristen attraktiv aufbereiten könnte?
Weiß: Die ursprünglichen Ocean-Park-Planungen waren zu groß, zu teuer, zu künstlich, zu viel auf einmal. Man hat versucht, eine Illusionswelt hierher zu kaufen und war dann immer in Konkurrenz zu anderen, die noch mehr kaufen können. Die Debatte hat gezeigt, wie wichtig es ist, sich der gewachsenen Strukturen zu erinnern und der Elemente in unserer Stadt, die andere nicht kaufen können. Das sind das Wasser, der Hafen, der Deich, die Schiffe. Dass so etwas zum Teil wieder umschlägt in maritimen Kitsch, das liegt im Trend der Zeit. Wichtig bleibt: Wir haben den Zoo am Meer nicht wegradiert zugunsten einer unsicheren Ocean-Park-Perspektive, sondern er wird jetzt gebaut, nächstes Jahr geht's los. Das Thema Auswanderung stellte bisher in der Planung nur ein Randphänomen dar. Jetzt ist sein Stellenwert gewachsen. Für mich ist wichtig, dass wir das touristische Element des Themas verknüpfen mit einer soliden wissenschaftlichen Aufarbeitung. Und da ist der Titel „Abenteuer Spurensuche“ und „Erlebniswelt Auswanderung“ schon falsch gewählt. Denn Emigration, Flucht aus wirtschaftlicher Not, religiöse Vertreibung – diese Dinge sind nicht mit dem Begriff Erlebniswelt zu fassen. Das Historische Museum hat mit der gerade eingerichteten Auswanderer-Datenbank einen wichtigen Weg gezeigt. Wir verzeichnen seitdem im Morgenstern-Museum eine Verdoppelung der Besucher-Zahlen auf fast 8.000 im Monat Juni. Das hatten wir noch nie. Außerdem ist die Datenbank im Internet seit Juni 16.000 Mal angeklickt worden und wir haben pro Tag circa 20 Anfragen, Recherchen bei der Suche nach Vorfahren, davon ein Drittel aus Übersee. Das heißt: Wir haben ein Thema, das uns bundesweit und international bekannt macht. Aber hier haben wir noch etwas, was andere nicht haben: Wir haben lauter historische Orte. Das fängt beim Auswandererhaus an über den Auswandererhafen bis hin zum Columbusbahnhof. Ich vermute mal, Touristen aus Übersee kommen nicht, weil sie hier so eine Art Starlight-Express zum Thema Auswanderung erleben wollen, das können sie in Amerika genauso gut haben, sondern weil sie hier an die Ursprungsorte zurückkehren. Das sind die Perspektiven.
Das klingt so, als wollten Sie auf Distanz gehen zu den neuen Museumsvorschlägen?
Weiß: Nein, nein. Ich denke, wir müssen den touristischen Akzent – mit den daran geknüpften Geldern – und die solide wissenschaftliche Aufarbeitung zusammenbringen. Das eine geht nicht ohne das andere. Wir können uns kein Institut für Auswandererforschung, keine Akademie zur Migrationsproblematik leisten, das bringt zwar Renommee und wäre politisch wichtig, aber das können wir niemals finanzieren.
Tammen: Ich finde, wir müssen die Stadt als Fremdenverkehrsort und als Stadt für die Bürger zusammenbringen. Ich gehe natürlich lieber in eine Stadt, in der die Sonne scheint und die Menschen lachen und die Cafes sind offen und ich kann auf der Straße sitzen. Hier ist es so, dass man feststellen muss, die Menschen gehen geduckt, es ist eine gedrückte Stimmung, es ist eine fröhliche Stimmung nur zwei-dreimal im Jahr, wenn es Bratwürste und Schnaps gibt auf irgendeinem komischen Basar ...
Weiß: Och bitte, wie furchtbar!
Tammen: Ja, so sehe ich es.
Wesseler: Das sehe ich genau so. Aber wir diskutieren zu kurz: Es gibt nicht nur eine Krise der Kultur, es gibt vor allem eine Krise der Stadt, der Städte. Bei uns wird nur deutlicher, was auch für andere und große Städte gilt. Es wird immer mehr abgerissen, massenhaft werden Dinge zerschlagen.
Also: Was machen denn Kulturschaffende in dieser Stadt, um zu verhindern, dass alles nur schlechter wird?
Weiß: Ich finde es nicht gut, wenn Wesseler ein Gemälde in apokalyptischer Selbstgefälligkeit präsentiert. Ich bitte Sie, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen: Auswanderung prägt die Identität Bremerhavens entscheidend. Wir haben fünf Geschichtsvereine. Wenn das Stadtarchiv Führungen macht, sind 200 Besucher dabei, es gibt ein hohes Interesse, sich mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen. Die Auslastungsquote im Theater ist exzellent. Das Theater im Fischereihafen wird gut angenommen. Dass es kein Bedürfnis nach Kultur gibt, ist meines Erachtens völlig abwegig.
Schad: Wir vier haben alle sehr spezifische Angebote. Das ist nicht unbedingt kultureller Mainstream. So betrachtet, haben wir es in Bremerhaven nicht einfach. Ich merke es in der Kirchenmusik: Wenn ich die „Schöpfung“ anbiete, ist das Haus voll. Wenn ich ausgefallene Sachen – zum Beispiel mit unbekannten Komponisten – anbiete, was ich sehr gerne mache, dann stoße ich auf Schwierigkeiten. Da sind wir wahrscheinlich alle in einer ähnlichen Lage, wir brauchen alle die gleichen Leute. Dann wird es in Bremerhaven schwierig. Dann können nicht mal ein Kirchenkonzert und eine Literaturveranstaltung zur gleichen Zeit stattfinden, weil wir nicht mehr genügend Leute haben.
Starke: Das Problem in Bremerhaven für uns ist sicher, dass es das klassische Bürgertum nicht gibt, woraus Kulturanbieter in anderen Städten unheimlich schöpfen. Es ist eine Arbeiterstadt. Unsere Kunst besteht darin, genau die von Ihnen beschriebene Mischung anzubieten und sich dabei nicht zu verkaufen. Wir müssen ein bisschen Mainstream machen, um Geld in die Kasse zu kriegen und damit können wir uns auch die Dinge leisten, die uns am Herzen liegen. Wenn im TiF nur 70 Leute kommen, haben wir ein fettes Defizit, das wir mit anderen Veranstaltungen bezahlen müssen.
Schad: Ich sehe das ganz genau so. In Bremerhaven ist das Publikum überschaubar. Man kann immer genau gucken, wer geht wohin. Das ist anders als in einer riesengroßen Stadt. Da finde ich, wird Bremerhaven ganz klein. In meinen Chorproben merke ich es: Der Nachwuchs fehlt. Kaum sind sie im Chor und singen, dann gehen sie schon weg, um zu studieren.
Wie groß ist Ihr Chor?
Schad: 100 Leute, ein Kammerchor mit 25 Leuten, ein Orchester mit 20 Leuten, zwei Kinderchöre und ein Jugendchor. Es sind hier Menschen da, die Musik machen wollen. Aber das sind auch die, die ins Konzert kämen. Das heißt, wenn die schon Musik machen und auftreten, dann können sie nicht mehr ins Konzert kommen. Ich muss also davon ausgehen, dass bei den Konzerten vor allem der Anhang vom Chor mitkommt. Da merkt man schon, dass Bremerhaven keine Uni-Stadt ist.
Tammen: Ich kann eine ausdrücklich positive Bilanz ziehen. Die Literarische Woche ist in den letzten zehn Jahren zu einer fest etablierten Einrichtung geworden – vor 20 Jahren null, heute zwei Literaturwochen im Jahr mit einem deutlichen Engagement der Stadt und in die Stadt hinein. Es hapert nach wie vor am Veranstaltungsort. Für die Literatur gibt es nur Hilfsorte wie die Volkshochschule mit ihrer Aula, ein vertrauter, aber kein idealer Ort. Trotzdem: Hier ist eindeutig nachweisbar, dass es für Literatur ein viel größeres Publikum gibt, als es die Verlagsunken ins Land posaunen.
Einer der schönsten Kultur-Orte in Bremerhaven ist die Kunsthalle. Jenseits aller apokalyptischen Bilder könnten Sie, Herr Wesseler, als Kultur-Macher doch positive Bilanz ziehen!
Weiß: Genau, wir wollen auch mal was Positives von Ihnen hören.
Wesseler: Ich bin seit 33 Jahren Ausstellungsmacher. Es gibt für anspruchsvolle Strömungen nur ein kleines Publikum. Ich glaube, die künstlerischen Sparten spielen in der Schule keine große Rolle. Wenn Schüler in der 12. Leistungskursklasse nicht wissen, wer Paula Modersohn-Becker ist, dann sehe ich schwarz. Oder wenn ein japanischer Galerist am Hauptbahnhof nach der Kunsthalle fragt und weder der Taxifahrer noch die Zentrale Bescheid wissen, und einige Polizisten sagen: „Nee, eine Kunsthalle gibt's in Bremerhaven nicht“ ...
Starke: Sich über diesen Zustand einfach nur zu beschweren ist billig. Denn das liegt auch an euch. Du musst eine anständige Öffentlichkeitsarbeit machen.
Wesseler: Das haben wir versucht. Aber offenbar erreicht sie nicht die Bremerhavener Polizisten und Taxifahrer ...
Tammen: Das wirft ein Schlaglicht auf die Zerrissenheit, die Inselhaftigkeit von Kultur in Bremerhaven.
Weiß: Achtung, Herr Wesseler ist gerade auf dem Weg, was Positives zu sagen, er hat nur die Kurve noch nicht gekriegt.
Wesseler: Das Positive ist: Alle sind ganz froh, wenn sie bei uns ausstellen dürfen. Ich habe noch nie eine Absage bekommen.
Starke: Die Kunsthalle macht hervorragende Arbeit, sie ist international bekannt, nur in Bremerhaven kennt euch kein Mensch.
Tammen: Das finde ich sogar gut beim Kabinett für aktuelle Kunst: Das Understatement klingelt bis nach New York.
Starke: Aber noch besser wäre es, wenn's in Bremerhaven auch bekannt wäre.
Wesseler: Dass ich positiv gestimmt bin, sieht man ja schon daran, dass ich immer noch weitermache. Ich mach' die Arbeit auch, wenn nur wenig Leute da sind. Aber es gibt auch einen Bildungsauftrag des Staates. Wenn wir den abschreiben, wird langfristig auch die Museumslandschaft zerstört. Denn mit Eventveranstaltungen wie der „Blaue Reiter“ in Bremen können wir niemals konkurrieren. Aber ich vermute, dass die gesamte Museumsszene dahin laufen wird, so dass für kleine Institute mit einem avancierten Programm kaum noch Raum bleiben wird.
Weiß: Zum Positiven: In den letzten zehn Jahren ist sehr viel Geld in die Kultur geflossen, in den Bau des Morgenstern-Museums, die Erweiterung des Schifffahrtsmuseums, das Theater im Fischereihafen, die Ausstellung „Aufbruch in die Fremde“, in den Riesenkraftakt der Theatersanierung, daneben sind die Volkshochschule und die Jugendmusikschule saniert worden. Diese Dinge mussten alle im politischen Bereich erstritten werden. Und jeder, der sich zurückerinnert, weiß, was das für eine Debatte war, ob wir uns das Theater überhaupt leisten können. Bremerhaven hat sich zum Erhalt des Dreisparten-Theaters durchgerungen und noch ein Theater im Fischereihafen auf den Weg gebracht. Und es gibt niemanden, der daran rütteln will. Das ist nicht so selbstverständlich für eine Stadt, die ganz kräftig mit Finanzproblemen zu kämpfen hat. Andere machen ihre Sparten dicht, wir haben sie erhalten und ausgebaut.
Starke: Als ich 1990 nach Bremerhaven kam, wurde über den Kulturentwicklungsplan diskutiert, das war hervorragend. Die Diskussionen, die damals geführt wurden, die haben ein solches Leben in unsere Szene gebracht. Das ist inzwischen doch ziemlich eingeschlafen. Ich würde mir wünschen, dass Diskussionsforen wieder möglich sind, wo wir uns alle an einen Tisch setzen und sagen, was wünschen wir uns, was stellen wir uns vor, was können wir machen.
Wesseler: Zur Zeit des Kulturentwicklungsplans haben wir zwei Jahre miteinander gestritten und über Kultur gesprochen. Ich hatte noch nie mit einem Theaterintendanten gesprochen, ich kannte den nicht mal.
Weiß: Kein gutes Zeichen.
Wesseler: Da haben Leute miteinander gesprochen, die sich kaum kannten. Das fand ich phantastisch. Das ist das, was Kultur ausmacht.
Weiß: An wen richtet sich denn dieses Klagelied, dass alles schlechter geworden ist? Das richtet sich doch an Leute, die hier am Tisch sitzen.
Starke: Wir könnten uns fragen, was wir zusammen machen könnten. Warum zum Beispiel versinkt Bremerhaven im Sommer in einen kulturellen Tiefschlaf? In anderen Städten passiert irrsinnig viel im Sommer, bei uns überhaupt nichts. Können wir da nicht mal zusammen was auf die Beine stellen?
Weiß: Gute Frage.
Tammen: Warum nicht zum Beispiel ein Sommerfest zum Thema „Wellen“? Dazu ist viel Organisationsarbeit nötig, also auch eine bessere Ausstattung des Kulturamts.
Weiß: Leute, die Stadt muss 45 Millionen Mark in den nächsten drei Jahren sparen![2]Ich habe meine Sparvorschläge gerade diktiert. Es wird eine ganz heftige Debatte werden. Die verfolgt uns. Wir haben momentan ja nicht mal die Kohle für einen Kulturkalender. Wer hierher kommt, weiß ja nicht mal, was für Veranstaltungen stattfinden.
Lassen Sie doch mal hören, wie Ihre Sparvorschläge aussehen.
Weiß: Ja, das wäre jetzt genau richtig. Aber da müssen Sie wohl bis zum November warten ...
Schad: Wir reden immer von mehr machen und Sommerloch stopfen und so. Ich glaube, wir machen wirklich viel. Ich mache im Sommer deswegen nichts, weil niemand da ist, der das abnimmt. Die Bremerhavener sind im Sommer nicht hier. Die Stadt ist doch leer.
Starke: Es ist doch merkwürdig, dass wir an Jugendliche so schlecht rankommen!
Weiß: Dass Schüler und Jugendliche zu wenig an den hohen Kulturgütern interessiert sind, die Klage ist doch so alt wie die Schule.
Starke: Die sind auch an den nicht ganz so hohen Kulturgütern wenig interessiert. Wir haben seit einem Jahr ein Schüler-Ticket, fünf Mark an der Abendkasse, und es sind drei oder vier gekommen.
Weiß: Wer bringt denn die neuen Impulse in die Kultur? Das sind doch die Jugendlichen! Wenn das alles so abwärts ginge, dann säßen wir doch schon längst auf den Bäumen und würden „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ singen.
Starke: Ja, aber es ist doch merkwürdig, dass man nicht an sie rankommt. Ich frage mich, woran liegt das?
Weiß: Das ist ja vielleicht nicht eine Kulturverdrossenheit der Jugend, sondern eine Jugendverdrossenheit der etablierten Kultur-Szene.
Starke: Moment, was heißt das? Dass wir das falsche Programm machen?
Weiß: Dass wir die falschen Erwartungen haben. Wir richten uns mit unserem Programm an bestimmten Zielgruppen aus und uns fehlt der Zugang zu Jugendlichen. Manchmal hat man das Glück, über die eigenen Kinder mitzukriegen, was dort für 'ne lebendige Szene besteht. Im Laufe ihres Sozialisationsprozesses kriegen sie auch den Bezug zur Kultur mehr oder weniger stark. Die einen gehen dann gern ins Theater, die anderen sind dann erst mal, wenn sie ihre Kinder großziehen, sowieso weg von der Kultur, weil sie mit ganz anderen Themen beschäftigt sind. Es bringt mich auf die Palme zu sagen, die Jugendlichen interessierten sich für nichts. Stimmt nicht. Es ist viel in den Schulen los.
Wesseler: Was denn?
Weiß: Gehen Sie mal hin!
Wesseler: Mein Sohn hat Kunst-Leistungskurs belegt, und ich musste feststellen, dass da kaum was da ist. Die Schule sollte wenigstens Grundlagen vermitteln, aber es fehlt ein verbindlicher Bildungskanon.
Weiß: Dieses Klagelied ist uralt.
Wesseler: Wir haben heute dreißig Prozent Abiturienten, als ich aus der Schule kam, waren es drei Prozent.
Weiß: In die Zeiten will ich nicht zurück, ehrlich!
Wesseler: Nein, nur muss man fragen, wo ist der Gewinn? Grundproblem ist, dass Kultur bei uns keine Rolle spielt, höchstens als Werbeträger für Stadtmarketing. Ein richtiges Bedürfnis danach ist nur ganz gering ausgeprägt.
Weiß: Jetzt schauen Sie sich doch mal an, wie viele Leute in die Kunsthalle, ins Theater, ins TiF, zu den Lesungen und zur Kantorei gehen. Die sind doch offenbar an Kultur interessiert und bezahlen dafür sogar!
Wesseler: Wie viele sind das denn?
Weiß: Fast 400.000 allein im Museumsbereich.
Wesseler (schweigt)
Weiß: Ja, jetzt sind Sie baff.
Wesseler: Nein, nein, ich bin nicht baff ...
Tammen: Aber Fakt bleibt: Die Literarische Woche besuchen pro Jahr maximal zwei Deutschlehrer von ich weiß nicht wie vielen.
Weiß: Ich möchte mal wissen, wie das festgestellt worden ist. Ich kann Ihnen sofort vier nennen.
Tammen: Mal sind auch sieben da. Aber es ist eindeutig so, dass die Gruppe, die am ehesten für Literatur aufgeschlossen sein müsste, nicht da ist. Das ist Fakt. Aber das beklage ich nicht. Unsere Arbeit ist ganz schlicht so, wie Günter Eich das für sich als Autor gesehen hat: „Ich habe einen Leser in Bad Nauheim, da bin ich froh!“
Wesseler: Ich beklage mich auch nicht. Aber wir sprechen über Kulturpolitik!
Tammen: Ich möchte dem literarisch interessierten Publikum das Bestmögliche servieren. Eine Literaturwoche ist in dieser Stadt immer noch ein Fest. Wenn wir das halten, wenn wir eine Bestandssicherung in Sachen Kultur haben und es darüber Konsens gibt zwischen Machern und Budgetierern ...
Weiß (lacht): Macher und Budgetierer ...
Tammen: ... wichtig ist, dass man einerseits ständig unzufrieden bleibt, aber auch mit ein bisschen Selbstbewusstsein und Zufriedenheit unterwegs ist, weil eben doch vieles gelingt. Was ich mir noch mehr wünschen würde, dass man es dieser Stadt ansieht, dass etwas Gutes stattfindet. Nicht dieses plumpe Stammtisch-Stolzsein, „ich bin ein Bremerhavener“ und dann hängt man sich so ein BHV-Schild ans Auto, aber dies andere, die Offenheit im Blick nach draußen, das gute Selbstwertgefühl, wenn man von draußen hereinblickt in die Stadt und die Menschen anblickt. Dafür wird das doch gemacht und nicht für irgendeinen Egoismus auf den Feldern. Obwohl ich den natürlich auch habe. Wenn's nach mir ginge, würde ich 365 Tage im Jahr Nabokov lesen lassen und alle würden in Ketten gelegt und müssten sich das anhören.
Starke: Bestandspflege ist mir zu wenig. Das ist wahrscheinlich der realistische Wunsch, aber am Leben gehalten werden Institute nur, wenn sie fortgeführt werden.
Was heißt das für das TiF?
Starke: Das TiF ist jetzt fast fünf Jahre alt, es muss sich weiterentwickeln. Wir müssten mehr Ko-Produktionen oder Eigenproduktionen versuchen. Das ließe sich nur machen, wenn sich personell etwas tut, aber ich weiß nicht, wie wir das hinkriegen sollen.
Tammen: Mir ist es völlig wurscht, woher das Geld kommt. Ich will nur viel und ausreichend Geld haben, damit man die Kulturarbeit expansiv gestalten kann.
Wesseler: Dass der Kunstverein daran interessiert ist, ein Kunstmuseum zu bekommen, um die Sammlung zeigen zu können, das wissen Sie ja alle. Das ist eben unser großer Wunsch.
Schad: Mein Wunsch wäre, dass das Publikum größer wird. Das liegt bei mir nicht am Geld.
Das Gespräch organisierte und moderierte Hans Happel . Es fotografierte Michael Jungblut
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